Vom Entgleiten der „Unruhefunktion“

Ludger Fittkau, freier Landeskorrespondent von Deutschlandradio in Hessen Foto: Markus Hintzen

Landespressekonferenz Hessen vor wenigen Monaten. Der Vorsitzende gibt ein Statement ab, das nachdenklich macht: Immer weniger Journalisten kämen zu politischen Terminen und Pressekonferenzen des Landesparlaments. Manchmal säßen da nur zwei Medienvertreter, wenn ein Ministerium oder eine Landes-NGO einlädt. Einst wichtige Regionalzeitungen, TV- und Radiosender schickten keine Korrespondenten mehr. – Wer also übernähme denn nun das Wächteramt gegenüber der Landespolitik?

Wenige Wochen später: Der hessische Landtag schaltet die Live-Übertragungen seiner Plenarsitzungen wieder ab, die er zeitweilig im Internet anbot. Die Resonanz sei so gering gewesen, dass sich die Kosten nicht mehr rechtfertigen ließen, lautet die Begründung. Künftig böte man nun wichtige Debatten aus dem Landtag nachträglich auf dem kommerziellen Kanal YouTube an. Das will ich mir ansehen und rufe dort die letzte Landtagsdebatte auf. Sie drehte sich um die Zukunft des Flughafens Frankfurt am Main. Mit 80.000 Arbeitsplätzen ist der Airport mit Abstand der wichtigste Arbeitgeber der Region, gleichzeitig umstritten als größter Ruhestörer. Wie hoch ist wohl die Zahl derjenigen, die dieses folglich relevante Landtagsthema in einem Zeitraum von rund sechs Wochen nach der Debatte im Internet nochmal aufgerufen haben? Ich erschrecke. Nur vierzig Mal ist der Mitschnitt nachträglich angeklickt worden.

Vordergründig finden sich schnell Erklärungen für die geschilderten Ereignisse. Ein Argument mag lauten: In Hessen entwickelt sich die Landespolitik zwischen 2015 und Mitte 2017 relativ ruhig, es gibt nicht allzu viel Irritierendes, mangels großer Turbulenzen dösen die Bürger weg. Massenmedial vermittelte Öffentlichkeit orientiert sich an Konflikten, daher ist das öffentliche Interesse an einer vergleichsweise geräuscharmen Landespolitik eben gering. Ein zweites Argument: Themen von europäischen Dimensionen sind heutzutage generell ungleich wichtiger, da denkt man an die Flüchtlingsfrage, Syrien- oder Ukraine-Krieg, den Brexit oder die Wahl Trumps. Und außerdem die Ökonomie: Die Zeitungen stecken in einer Strukturkrise, sie können ihre Korrespondentinnen und Korrespondenten immer weniger finanzieren, weil ihre Leser ins Internet abwandern. Dort fällt das Geldverdienen den klassischen (und gar regionalen) Verlagen schwer.

Alle Argumente sind von Gewicht. Doch für die lokale oder regionale Demokratie ist das, was man erklären kann, gleichwohl fatal. Denn die Massenmedien erfüllen ja gerade „vor Ort“ eine wichtige Funktion. Die „Unruhefunktion“, wie sie der Soziologe Niklas Luhmann nennt. Medien, so Luhmann in seinem Buch „Die Realität der Massenmedien“, „halten (…) die Gesellschaft wach. Sie erzeugen eine ständig erneuerte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja Störungen zu rechnen“. Medien dienen, so der Soziologe, der „Erzeugung und Verarbeitung von Irritation“.  Die Gesellschaft braucht das, um nicht zu erstarren wie etwa die Gesellschaften  des Ostblocks vor der schließlich erzwungenen Wende.

Doch Luhmann sieht auch eine andere, sozial anstrengende Seite der „Unruhefunktion“ der Massenmedien. Sie entwickeln eine eigenlogische, „beschleunigte Eigendynamik“ , welche die Gesellschaft ständig neu mit Problemdruck konfrontiert. Luhmann setzt Kapital- und Info-Markt parallel: „Fresh money und new information sind zentrale Motive der modernen Gesellschaftsdynamik“.  Seit 1995, als dies geschrieben wurde, beschleunigen insbesondere die Online-Medien diese Dynamik noch einmal in dramatischer Weise. Man könnte auch sagen: das Internet sorgt für ganze Lawinen von Irritation. Es inflationiert alle Unruhewerte. Und mit der Verarbeitung der Irritations- oder Störungskaskaden hapert es zunehmend. Das zeigt die Fake News-Debatte seit der Trump-Wahl 2016 und das zeigen vor allem die Fake News selbst.

Zwar gilt in Deutschland das vergleichsweise „alte“ Massenmedium Fernsehen bei mehr als der Hälfte der erwachsenen Online-Nutzerinnen und Nutzern immer noch als wichtigste Nachrichtenquelle. Auch das nach wie vor sehr beliebte Radio verzeichnet als Quelle für aktuelle Informationen nur leichte Rückgänge. Es ist im Vergleich zum Vorjahr um zwei Prozentpunkte geschrumpft.  Auch Zeitungen behaupten sich – gedruckt oder digital – trotz Rückgängen bei den Print-Abonnements, was ihre Reputation angeht, vergleichsweise gut. Selbst „in der Gruppe der 18-24-Jährigen sind die traditionellen Anbieter als Nachrichtenquelle gleichauf mit den sozialen Medien“ .

Doch die Medienmacher schwächeln. Auf die zunehmende Bedeutung von Online-Medien reagieren gerade die älteren Medienmanager des „vor-Internet-Zeitalters“ (Zeitungen, Radio, TV) mit Glaubensverlust an das, was ihr eigenes Medium – trotzdem – kann. Vielleicht ist es Panik. Chefredakteure, Intendanten, Programmchefs: Nach Kräften versuchen sie, die bewährten Verbreitungswege anzukoppeln an die Eigen-Dynamik der Internet-Kommunikationen. Allem voran will man in die sogenannten social media, privatwirtschaftlich betriebene Experimentierräume wie Facebook und Twitter hinein. So forcieren die klassischen Massenmedien einen Wandel, dem sich die Gesellschaft umso alternativloser dann nur noch anpassen kann. Der Soziologe Luhmann sah diese Entwicklung insbesondere im Hinblick auf den Status des „Neuen“ (von dem Massenmedien leben) schon zu Beginn des Internetzeitalters kritisch.

Tatsächlich kommt in der netzgestützten Redaktionsarbeit das Neue tendenziell abhanden. Denn Neues wird von den Redaktionen auch der „alten“ Massenmedien mehr und mehr durch die Auswertung von Online-Medien generiert. Immer weniger Akteure arbeiten zwar schneller, schöpfen aber aus demselben Teich. Das hat Folgen für das, was man dann funkt und druckt. Online-Kanäle, und zwar im Grunde auch nur wenige (zu denen Bild Online zählt) werden zu Leitmedien für die Befriedigung derjenigen Neugier, für welche die Massenmedien zuständig sind – während sich auch die Nutzer_innen dieser Medien aus dem gleichen Internet bedienen. Das bedeutet zum einen: Wer wirklich Neues will, steigt immer tiefer in die Katakomben des Netzes hinein. Und es bedeutet auch: Realitäten, die nicht im Internet kommuniziert werden (für die man nämlich tatsächlich Journalismus bräuchte), geraten zunehmend aus dem Blick.

Das ist nicht trivial. Eine mögliche Folge: Bürgerinnen und Bürger äußern zunehmend das Gefühl, die lokale Demokratie – also die reale Umgebung – entgleite ihnen. „Haben Sie den Eindruck, Einfluss zu haben auf das, was in Wiesbaden geschieht?“ Diese Frage stellte das städtische Amt für strategische Steuerung im Herbst 2016 insgesamt 2526 Wiesbadener Bürgerinnen und Bürgern im Alter von 18 bis 90 Jahren schriftlich.(FAZ) Neun Prozent beantworteten diese Frage mit „Ja.“ Dieselbe Frage hatte das Wiesbadener Amt den Bürgerinnen und Bürgern schon einmal vor 20 Jahren gestellt. Damals hatten noch 31 Prozent das Gefühl bekundet, Einfluss zu haben auf das, was in Wiesbaden geschieht. Unverändert halten auch heute 87 Prozent der in der hessischen Landeshauptstadt Befragten die allgemeinen Partizipationsmöglichkeiten vor Ort für wichtig. Dennoch scheint die krisenhafte Entwicklung des Weltgeschehens auch bei den befragten Wiesbadenern das Informationsbedürfnis zu dominieren, und es wird von den zunehmend im Internet aktiven Massenmedien befriedigt. Die andere Seite habe ich selbst erlebt. Die Regionalberichterstattung schafft sich ab. Bei vielen Pressekonferenzen mit regionaler Agenda schwindet die Zahl der Akteure, die überhaupt berichten wollen. Da wächst eine Informationslücke hinsichtlich des Lokalen. Und die Ohnmachtsgefühle steigen.

Es muss langfristig auf ein demokratisches Desaster hinauslaufen, wenn nur ein Zehntel der Bürgerinnen und Bürger Wiesbadens oder anderer Kommunen glaubt, man könne lokalpolitisch etwas bewirken. An den politischen Gemeinden selbst liegt es nicht. Diese offerieren eine Menge Partizipationsmöglichkeiten: themenbezogenen Bürgerversammlungen, Bürgerhaushalte, Kinderbürgermeister, dazu verschiedenste lokale Parlamentslisten für alle, die sich nicht in einer überregionalen Partei engagieren wollen. Kommunalpolitik bietet sich niedrigschwellig an.

Wer im Geflecht der lokalen Demokratie im Augenblick aber wegbricht, sind die Massenmedien. Trotz hohem Sozialprestige erfüllen sie ihre gesellschaftliche „Unruhefunktion“ auf der Ebene von Kommunen und Bundesländern immer unzureichender. Der Bedeutungsverlust des Regionalen gegenüber den „Erregungsspiralen“ (Bernhard Pörksen) des Online-Zeitalters, auf die Redaktionen reagieren, ist evident.

Die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien müssten sich neu justieren – und gerade nicht wegen des Internets, sondern angesichts eines Verlustes des Regionalen. Diejenigen Zeitungen, die sich am Markt behaupten müssen, werden wirtschaftlich nicht mehr die Kraft haben, Korrespondentinnen und Korrespondenten etwa in die Landeshauptstädte zu entsenden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat da Möglichkeiten, die anderen fehlt. Freilich nutzt ein Netz von Inlands-Berichterstattenden nichts, wenn die Themenwahl in Redaktionen dann doch wiederum nur die Prioritäten des im Netz schnell Erreichbaren abbildet.

Wie kommen etwa die Plenar-Debatten der Landesparlamente wieder aus ihrer fast unbeachteten YouTube-Nische heraus? Wie lässt sich ausführliche Berichterstattung aus Kommunal- und Länderparlamenten hier anschließen – einschließlich guter Kommentare? Und warum soll nicht auf phantasievolle Weise auch mehrsprachig berichtet, gesendet und kommentiert werden, gerade wenn es um Regionales geht? Multikultur ist Aufstieg zum Konkreten. So oder so: Journalistisches Handwerkszeug müsste eingesetzt werden, um die „Unruhefunktion“ hinsichtlich zentraler Themen für die Regionen wieder neu zu erfinden. Die Funktion der gebührenfinanzierten Massenmedien wäre an diesem Punkt eine – horribile dictu – eine konservative… Doch der lokalen und regionalen Demokratie könnten gerade sie helfen, im Zeitalter der Internet-Öffentlichkeit „Neues“ sogar wiederzugewinnen. Weil das Netz das nicht einfach hat. Und womöglich nicht kennt.

 

Quellen:

Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 47/48.

Sascha Höllig/Uwe Hasebrink: Reuters Institut Digital News Survey 2017. Studie des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung an der Universität Hamburg, Juni 2017.


Der Autor

Ludger Fittkau, geboren 1959 in Essen, studierte Sozialpädagogik sowie Sozialwissenschaften an den Universitäten Duisburg/Essen und der Fernuniversität Hagen. Promotion dort im Fach Soziologie. Nach rund zehn Jahren offener Jugendarbeit sowie Medienpädagogik in Oberhausen und Essen Wechsel in den freien Journalismus. Tätig u.a. für den WDR (Hörfunk und Fernsehen), den DLF sowie für die Kölner TV-Produktionsfirma „probono“ von Friedrich Küppersbusch. Ab 2007 freier Redakteur und Autor in der Landeskulturredaktion von SWR 2 in Mainz. Seit 2009 freier Landeskorrespondent von Deutschlandradio – zunächst in Rheinland-Pfalz und aktuell in Hessen.

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