Im Zeichen kollektiven Handelns stand der ver.di-Selbstständigentag am 25. März in Leipzig. In den historischen Gewölben der Moritzbastei trafen sich Solo-Selbstständige, um sich nach langer Corona-Zwangspause wieder „in echt“ zu sehen und spannende Themen miteinander zu diskutieren. Der Tag stand unter dem Motto „Kollaboration statt Konkurrenz“ – ein Thema, das auch immer mehr „Einzelkämpfer*innen“ bewegt.
Die für Nichtmitglieder offene Veranstaltung, die die ver.di-Landeskommission Selbstständige (LKS) für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (SAT) konzipiert und organisiert hatte, startete mit einer erfolgreich erprobten Methode: einem Speed-Dating. In jeweils fünfminütigen Gesprächsrunden konnten sich die Teilnehmer*innen persönlich kennenlernen und austauschen. Schnell wurde dabei deutlich, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie noch an vielen Existenzen nagen. Die aktuell hohe Inflation kommt dazu; die Honorare jedoch stagnieren in den meisten Branchen seit Jahren. So berichtete Barbara (*Name geändert), dass sie als freiberufliche Musikschullehrkraft und Privatlehrerin im Schnitt gerade mal 1.000 Euro mit ihrer Arbeit erwirtschaften kann – vor Abzug ihrer Kosten für Krankenkasse und Betriebskosten. „Wenn mein Mann nicht gut verdienen würde, müsste ich aufs Amt gehen“, gestand sie. Die meisten Teilnehmer*innen benannten Arbeitsdruck, Konkurrenz und Vereinzelung sowie unsichere Perspektiven als größte Probleme ihrer Solo-Selbstständigkeit. Dementsprechend groß ist der Wunsch nach mehr gemeinsamem Handeln und offenem Austausch.
EU: Kollektive Regelungen für SoloS legalisiert
Dazu passte der Vortrag von Veronika Mirschel, Leiterin des Referats Selbstständige bei ver.di: Sie informierte über die neue EU-Leitlinie, die für Solo-Selbstständige (SoloS) eine Reihe von Chancen beinhaltet: Statt sie wie bisher wie „Unternehmen“ zu behandeln und wie Großkonzerne dem Kartellrecht zu unterwerfen, können nach der im vergangenen Herbst verabschiedeten Leitlinie nun kollektive Regelungen, ja sogar Tarifverträge vereinbart werden, wenn Solo-Selbstständige vergleichbar zu Arbeitnehmer*innen beschäftigt werden. „Dies umzusetzen wird ein dickes Brett, denn es ist Neuland in der gewerkschaftlichen Tarifarbeit“, sagte Mirschel. Dass auch hier der Organisationsgrad der Betroffenen mitentscheidend ist, versteht sich von selbst. Eine gemeinsam vom Haus der Selbstständigen und dem Hugo Sinzheimer Institut veranstaltete Fachtagung am 29. März befasst sich explizit mit der neuen EU-Leitlinie und deren Möglichkeiten, Grenzen und Reformbedarf.
Solidarische Ökonomieansätze im Fokus
In einer weiteren Impuls-Runde stellte Anja Höfner vom Konzeptwerk Neue Ökonomie verschiedene solidarische Wirtschaftsansätze vor, die Alternativen zur Legende vom immerwährenden Wachstum bieten und vor allem auf gemeinwohlorientiertem Handeln beruhen. Und die – gerade in Leipzig – immer mehr Anhänger*innen finden: So gehört die Messestadt zu den deutschen Großstädten mit den meisten Mietssyndikaten und Hausgenossenschaften.
Höfner arbeitet seit 2017 zu den Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit und erarbeitet beim Konzeptwerk Neue Ökonomie zusammen mit ihren Kolleg*innen Ideen, wie auch digitale Technik einen Beitrag zu einer sozial-ökologischen Transformation leisten kann. Sie belegte beispielhaft, wie solidarisches Wirtschaften funktionieren kann: Genossenschaftlich organisierte Kurierdienste, landwirtschaftliche Initiativen oder Handwerker*innen machen’s vor.
Auch in der digitalen Welt gemeinsam arbeiten und lernen
Im nächsten Block stellte Matthias Baran alternative Werkzeuge für die digitale Arbeit vor. Der Gestalter und Dozent aus Halle nutzt seit vielen Jahren freie und quelloffene Software und lehrt den Umgang damit: „Das Teilen von Wissen und Können ist für mich Arbeitskultur, der Gewinn daraus sind Inspiration, Lernfreude, Produkt- und Projektideen“, betonte er. Matthias berichtete aus seinem Berufsalltag und argumentierte leidenschaftlich für das Arbeiten mit einem solidarischen, kollaborativen Grundgedanken. Er bereichert mit seinen Ideen seit letztem Herbst die ehrenamtlichen LKS für SAT und war maßgeblicher Mitorganisator des Selbstständigentages.
Gestricktes Geld als Notruf und Performance
Den Kreis schloss Anna Spenn, ebenso neues Mitglied in der LKS. Sie ist seit zehn Jahren soloselbstständig als Textilschaffende für Kleidung und Kostüme tätig und eröffnete einen Blick auf einen ganz anderen Bereich des Solo-Kosmos: Sie schilderte die Probleme dieser Berufsgruppe, die vorrangig wirtschaftlicher Natur sind, aber auch in mangelnder gesellschaftlicher Wahrnehmung und Wertschätzung liegen: „Die meisten von uns sind Frauen mit Kindern, viele davon alleinerziehend. Gearbeitet wird zwischendurch, eigene Arbeitsräume gibt es kaum, das Teilen von Werkzeugen wird kaum praktiziert“, schilderte die dreifache Mutter die Situation. Mit ihrer Kollegin Schrüppe McIntosh initiierte Anna 2020 den ersten #engmaschig-Kongress für Handarbeit und nachhaltige Textilien und gründete im Anschluss die #engmaschig-Initiative als Anlaufstelle für Textiler*innen unabhängig von Alter und Berufsstatus. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen setzt sie sich für Vernetzung, Sichtbarkeit, Wertschätzung – also für gute Handarbeit ein. Erfrischend der kreative Umgang mit der Problemlage, u.a. mit gestricktem Geld, das problemlos gewaschen werden kann und dessen Herstellung mittels alter Strickmaschinen mittlerweile als „Performance“ gebucht wird.
Interessantes für die Ohren vom Kleinkollektiv
In den Pausen und am Ende gab es Musik von Künstlern aus Halle/S., die ebenfalls kollaborativ miteinander agieren: Cornerconny aka Lenas und Blecho aka Albert, beide Veranstaltungstechnik-Azubis an der Oper in Halle, produzierten entspannte live-DJ-Sets. Sie machen einmal monatlich auf dem Theaterschiff auf der Saale gemeinsam Musik unter dem Motto „Overseas“ und sind auch beim freien Radio corax zu hören. „Breakdance für die Ohren“ nennen sie ihr größeres Kollektiv, in dem sie gemeinsam mit Kreativen aus Braunschweig, Halle und Chemnitz an neuen Musikideen feilen. Abgesehen davon, dass die beiden 18jährigen das Durchschnittsalter der Veranstaltung kräftig drückten – auch sie fühlten sich inspiriert von den Ideen, die im Laufe des Selbstständigentages aufgeworfen und diskutiert wurden. „Unser Blick auf Gewerkschaften ist jetzt ein anderer“, sagten sie beim Gehen.
Positiv fiel auch das Fazit der meisten Teilnehmer*innen aus: Die angeregten Diskussionen nach jedem Impulsvortrag zeigten, dass die Thematik ins Schwarze traf. Die großzügig angelegten Pausen kamen dem Gesprächsbedarf vieler entgegen: „Ganz abgesehen davon war es einfach großartig, mal wieder mit Kolleg*innen ganz in echt zusammenzusein – ehrlich gesagt bin ich deshalb gekommen“, gestand eine Fotografin. Zwei Grafik-Designer waren das erste Mal bei einer Veranstaltung ihrer Gewerkschaft. Beide waren während der Corona-Pandemie erst auf ver.di aufmerksam geworden, weil die Informationen für Solo-Selbstständige auf den Webseiten außerordentlich gut und aktuell aufbereitet waren. „Wir wussten bis dahin einfach nicht, dass auch Solo-Selbstständige Mitglied in ver.di werden können“, wiesen die Grafiker auf alte Problem hin. Nun wollen sie öfter kommen, wenn ver.di einlädt. Konkrete Termine gibt es bereits: Am 5. April trifft man sich ab 19 Uhr beim Leipziger Stammtisch im Volkshaus und am 1. Mai radeln die Selbstständigen von ver.di und dem Haus der Selbstständigen mit beim Radcorso des DGB.