Hemmschuh beseitigt – Tarifrecht ändern?

Selbstständige in der Medienbranche Foto: Shutterstock/Lipik Stock und New Africa/ Montage: Petra Dreßler

Der Paradigmenwechsel datiert vom September vergangen Jahres. Seither gibt es wettbewerbsrechtliche Leitlinien der EU-Kommission, die auch Solo-Selbstständigen ein kollektives Tarifrecht zuerkennen. Speziell Selbstständige, die Arbeitnehmer*innen vergleichbar beschäftigt sind, werden nicht mehr vorrangig als Unternehmen, sondern als sozial schutzbedürftig gesehen. Was geschehen muss, um aus Möglichkeiten auch kollektive Regelungen zu machen, darüber wird jetzt nachgedacht – bei Gewerkschaften, in Politik und Wissenschaft.

„Für die Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen ist kollektive Selbsthilfe und insbesondere die Tarifautonomie essentiell. Im europäischen Ausland wurden insbesondere im Bereich der Plattformökonomie bereits Tarifverträge abgeschlossen.“ Das hatte Professor Achim Seifert von der Friedrich-Schiller-Universität Jena bereits einige Monate vor Beschluss der neuen EU-„Leitlinien zur Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union auf Tarifverträge über die Arbeitsbedingungen von Solo-Selbstständigen“ festgestellt. Welche „Möglichkeiten, Grenzen und Reformbedarf“ jetzt aus dem Kollektivrecht für Solo-Selbstständige erwachsen, erörterte ein Fachsymposium, das das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht gemeinsam mit dem Haus der Selbständigen in Leipzig am 29. März 2023 veranstaltete.

Besserer Schutz für Selbstständige gefordert

Dabei wurde tarifrechtlich und -politisch schwere Kost behandelt. Doch dass es dabei um „kein rein rechtswissenschaftliches Thema“ gehe, „sondern um grundlegende Fragen des sozialen Schutzes für Beschäftigte, zum Beispiel in der Plattformökonomie“, machte Dr. Karin Schulze-Buschoff klar, als sie die aktuelle Situation Solo-Selbstständiger (SoloS) beleuchtete und „Schutzdefizite“ aufzeigte. Die 1,9 Millionen Selbstständigen hierzulande machten immerhin 4,3 Prozent aller Erwerbstätigen aus. Ihre Zusammensetzung sei jedoch „sehr heterogen, sehr polarisiert und dynamisch“. Trotz durchschnittlich längerer Arbeitszeit sei das Nettoeinkommen von SoloS überwiegend geringer als das abhängig Beschäftigter, hybride neue Geschäftsmodelle seien für sie ebenso typisch wie ein oft hohes Qualifikationsniveau. Die Corona-Pandemie habe ein Schlaglicht darauf geworfen, wie schlecht hierzulande mit diesen Erwerbstätigen umgegangen wird. Die aktuelle Krise zeige umso mehr die „Lücken bei der arbeits- und sozialrechtlichen Sicherung Selbstständiger“. Es fehlten „Haltelinien nach unten“, die Notwendigkeit einer „besseren Einkommenssicherung“ sei offensichtlich.

Dr. Karin Schulze Buschoff, Wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) Foto: screenshot

Schulze-Buschoff listete einen ganzen Katalog von Defiziten auf, der von A wie Alterssicherung und Arbeitslosenversicherung über Erwerbsminderung, Gründungsförderung, Interessenvertretung, Krankenversicherung, betriebliche Mitbestimmung, Mutterschutz, Qualifizierung bis W wie Weiterbildung reichten. Speziell im Arbeitsrecht seien SoloS nur fragmentarisch geschützt. Nachdem das „Damoklesschwert des EU-Kartellverbots“ nun gefallen sei, sieht sie einen „Meilenstein der Stärkung von Rechten Selbstständiger“ erreicht. Doch passe Selbstständigkeit nicht in das tradierte Muster sozialpartnerschaftlicher Strukturen. Um nun gesetzliche Möglichkeiten besser nutzen und ausschöpfen zu können, sollten sich Gewerkschaften mehr um die Organisation Solo-Selbstständiger kümmern. Nach dem Vorbild von ver.di müsse die „Gunst der Stunde“ dafür zügig genutzt werden, auch um nicht etwa gelben Gewerkschaften ein Feld zu eröffnen. Schulze-Buschoff sah aber auch den Gesetzgeber in der Verantwortung, weiteren Gruppen von Selbstständigen den Zugang zu fairen Arbeitsbedingungen zu eröffnen. Gleiches gelte für die Sozialversicherungsträger. Und nicht zuletzt für die Betroffenen selbst. Aus Umfragen sei ersichtlich, dass viele Solo-Selbstständige einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung zwar grundsätzlich positiv gegenüberstünden, aber kaum klare Vorstellungen von Organisation hätten oder gar eigene Forderungen stellten.

Neuland gewerkschaftlicher Tarifarbeit

Von einem „dicken Brett“ der Umsetzung von kollektiven Regelungen für SoloS und von „Neuland in der gewerkschaftlichen Tarifarbeit“ hatte Veronika Mirschel, Leiterin des Referats Selbstständige, vor wenigen Tagen bereits auf dem ver.di-SelbstständigenTag gesprochen. Nun erläuterte sie praktische Ansätze – von der Prämisse ausgehend, dass selbstständige Arbeit hierzulande nicht billiger sein dürfe als abhängige Beschäftigung. Um „vergleichbare Kosten für vergleichbare Arbeit“ durchzusetzen, sehe ver.di branchenspezifische Mindestlöhne als sinnvolles Ziel. Bessere Wertschätzung solo-selbstständigen Arbeitens verlange, auf Augenhöhe mit Auftraggebern oder Kunden zu verhandeln.

Veronika Mirschel, ver.di-Referat Selbstständige, Foto: screenshot

Ein „wunderbares Modell“ dafür sei mit dem ver.di-Vorschlag zu Basishonoraren für Kreative im Kunst- und Kulturbereich bereits vorgelegt worden. ver.di zeige Auftraggebern etwa auch mit einer „Honorartransparenzkarte“, wie viele Kostenpositionen für SoloS real in die Honorierung einzurechnen seien. Durch kontinuierliches Engagement habe ver.di Solo-Selbstständigen freilich schon jetzt „nicht Nichts anzubieten“. Regelungen für Mindesthonorare seien mit Rechtsverordnungen, Trägerzulassungsverordnungen, Gebührenordnungen, über das Heimarbeitsgesetz oder (unverbindliche) Honorarempfehlungen möglich. Historisch hätten sich speziell im Medien- und Kulturbereich sowohl durch ein sozialpartnerschaftliches Aushandeln als auch mit gesetzlichen Regelungen Handlungsoptionen ergeben. Die Künstlersozialkasse, Gemeinsame Vergütungsregeln, Normverträge, die Existenz von Verwertungsgesellschaften und Altersversorgungswerken nannte Mirschel als Beispiele, aber auch den Paragraphen 12a Tarifvertragsgesetz, der bereits seit 1974 einem Teil Freier einen arbeitnehmerähnlichen Status zuerkennt.

Was sind eigentlich Solo-Selbstständige?

Welcher „Reformbedarf kollektivrechtlicher Regelungsmöglichkeiten aus Sicht von Solo-Selbstständigen“ nun bestehe, beleuchtete Prof. Dr. Peter Wedde (Frankfurt University of Applied Science). Ihm waren dazu im Herbst 2022 konkrete Fragen gestellt worden, die er in einem Gutachten für das Leipziger Haus der Selbstständigen beantwortete.

Zunächst ging der Arbeitsrechtler darauf ein, dass der Begriff „Solo-Selbstständige“ juristisch nicht klar definiert sei. Sinnvollerweise bezöge er sich hier auf selbstständige Erwerbstätige, die gemäß § 12a Tarifvertragsgesetz als sogenannte „arbeitnehmerähnliche Personen“ wirtschaftlich abhängig und mit Arbeitnehmern vergleichbar sozial schutzbedürftig sind.

Ob es legitim sei, die Anwendbarkeit des § 12a an das Tätigkeitsvolumen bzw. das verdiente Entgelt von Solo-Selbstständigen zu koppeln, während solche Kriterien bei abhängig Beschäftigten keine Rolle spielen, lautete denn auch die erste dem Gutachter gestellte Frage. Obwohl die aktuelle gesetzliche Situation angesichts der wirtschaftlichen Lage für viele SoloS unbefriedigend sei, erwachse aus den EU-Neuerungen für den Gesetzgeber „keine Verpflichtung“ zu einer Novellierung mit dem Ziel, „den Anwendungsbereich des § 12a Abs. 1 TVG zugunsten weiterer Solo-Selbstständiger zu erweitern“. Da die gemäß Artikel 9 Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit – dort „für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“ – nicht eingeschränkt werde, bleibe es Betroffenen jedoch unbenommen, ihre Interessen auch außerhalb des Tarifvertragsgesetzes gegenüber Auftraggebern durchzusetzen. „Strukturelle Unterlegenheit durch strukturierte Selbsthilfe sichern“, nannte das der Jurist auf dem Symposium. Auch sei der Gesetzgeber damit nicht aus der Pflicht, stets zu prüfen, welche adäquaten Schutzregeln es für Solo-Selbstständige geben müsse.

Leerstellen in der Plattformökonomie

Frage zwei hatte auf Änderungsbedarf beim § 12a gezielt, speziell bei der dortigen Formulierung, dass arbeitnehmerähnliche Personen eine „überwiegende“ Tätigkeit für eine Person (einen Auftraggeber) ausüben bzw. sie dadurch die Hälfte ihres Entgeltes erwirtschaften müssen. Solche „Anwendungsschwellen“ sollten für SoloS „insbesondere in der Plattformökonomie“, wo ihre Schutzbedürftigkeit der von Arbeitnehmer*innen entspricht, reduziert werden, meint Wedde. Ein Orientierungswert finde sich in Absatz 3 des Paragraphen, wo lediglich von einem Drittel des erwirtschafteten Entgelts die Rede sei. Eine solche Herabsetzung entspreche den „neuen praktische Gegebenheiten“ mit erzwungenermaßen mehreren Auftraggebern von arbeitnehmerähnlichen Freien.

Drittens war nach notwendigen Anpassungen gefragt, die aus den EU-Leitlinien auf Tarifverträge zu den Arbeitsbedingungen Solo-Selbstständiger folgen könnten. Der Gutachter sieht für den Abschluss von Tarifverträgen oder vergleichbaren Vereinbarungen „keine unmittelbaren oder zwingenden Konsequenzen“. Doch könnten sich Deutschland und andere EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr auf die Position zurückziehen, dass Tarifregelungen wegen des EU-Kartellrechts unzulässig seien. „Man könnte also schon, aber man müsste auch wollen“, so Wedde.

Welche grundlegend neuen Denkmodelle für kollektive Tarifvereinbarungen erkennbar seien, war schließlich die vierte Frage. Eher „ernüchternd“ stellte der Gutachter fest, dass solche aktuell nicht ersichtlich seien. In Anbetracht dessen, dass etwa die Hälfte der rund zwei Millionen deutschen Selbstständigen „eigentlich Arbeitnehmer“ seien, sei in diesen Fragen über geraume Zeit „wenig passiert“. Dennoch gebe es „sinnvolle Vorschläge“, etwa die Erweiterung des Mindestlohngesetzes um ein „Mindestentgelt“ für Solo-Selbstständige. Diese Idee lohne es eher zu debattieren als etwa eine Modernisierung des Heimarbeitsgesetzes, meinte der Arbeitsrechtler. Auch ob es sinnvoll sei, mehr SoloS über „Zwangsmitgliedschaften“ in das Sozialversicherungssystem einzubinden, sah er skeptisch.

Wege an den Verhandlungstisch

Im Forum wurde unter anderem debattiert, ob dem § 12a nicht ein vierter Absatz hinzugefügt werden solle, der klarstelle, dass auch dann eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit vorliegt, wenn Selbstständige „Seite an Seite“ mit Festangestellten eine identische Tätigkeit ausüben. Solche Konstruktionen seien etwa in Orchestern, aber auch bei öffentlich-rechtlichen Sendern typisch. Weitergehenden Änderungsbedarf machte auch das gewerkschaftliche Tarif-Urgestein Gerd Nies aus, indem er Zeit- und Entgeltschwellen auch für den Rundfunk als „überholt“ ansah: „Heute brauchen Leute bis zu vier Auftraggeber und kommen bei keinem mehr über die nötige Schwelle.“ Andere Diskussionsteilnehmer sahen „Umgehungsstrategien“ von Auftraggebern nicht nur im Tarifvertrag selbst, sondern auch in Organisationsstrukturen von Unternehmen und Rundfunkanstalten gegeben, etwa durch Aufgliederung in Subunternehmen. Ein Rider bei „Lieferando“ habe es arbeitsvertraglich mit sechs unabhängigen Unternehmen zu tun, Plattformen änderten Rechtsformen ständig zu ihrem Vorteil.

Podium (von links n.r.): Prof. Dr. Peter Wedde, Christian Riechert, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Prof. Dr. Olaf Deinert, Uni Göttingen (Moderator), Prof. Dr. Achim Seifert, Universität Jena, Valentin Döring, ver.di-Bereich Rechtspolitik. Foto: screenshot

Bei einer abschließenden Podiumsdiskussion machte Rechtswissenschaftler Prof. Achim Seifert klar, dass es sich bei den EU-Leitlinien nicht um einen „Rechtsakt im eigentlichen Sinne“, sondern um „Verwaltungsinnenrecht“ handele, das Ermessens- und Beurteilungsspielräume gesetzt habe und bestimme, wie praktisch mit bestimmten Fällen verfahren werden soll. Nur die EU-Kommission selbst sei daran gebunden, nationale Behörden dagegen nicht. Christian Riechert, als Referatsleiter im Bundesministerium für Arbeit und Soziales auch für Tarifvertragsrecht zuständig, erklärte, dass die Regierung keine konkreten Neuregelungen für Solo-Selbstständige „in der Pipeline“ habe. Allerdings bestehe im Ministerium Interesse an einer starken Sozialpartnerschaft und man setze sich für mehr Tarifbindung ein. „Sehr zufrieden“ mit den neuen EU-Leitlinien zeigte sich Valentin Döring aus dem ver.di-Bereich Recht und Rechtspolitik. Sie bedeuteten eine Stärkung der Kollektivrechte von SoloS. „Den Rest müssen Kollektive, Vereinigungen und Organisationen auf den Weg bringen“, so der Justiziar. Die Leitlinien böten eine “großartige Möglichkeit, an den Verhandlungstisch zu gehen“.


Mehr dazu:

HSI-Schriftenreihe: Kollektivverträge für wirtschaftlich abhängige Selbständige und unionsrechtliches Kartellverbot von Prof. Dr. Achim Seifert

HDS: Reformbedarf Kollektivrechtlicher Regelungsmöglichkeiten aus Sicht von Solo-Selbstständigen von Prof. Dr. Peter Wedde

Aktualisierung am 5. April:

Das Haus der Selbstständigen hat auf seiner Webseite ein Video der kompletten Veranstaltung sowie pdf. der einzelnen Vorträge eingestellt. Die Materialien sind dort bis 12. Mai verfügbar.

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