Zweifelhaft, doch presseethisch zulässig

Bild: Pixabay

Der Deutsche Presserat hat zahlreiche Beschwerden über den Artikel „Die Lockdown-Macher“ bei „Bild“ und „Bild.de“ von Anfang Dezember 2021 als unbegründet zurückgewiesen. Der Bericht, der Porträtfotos von drei führenden Wissenschaftlern mit Corona-Maßnahmen als „Weihnachtsgeschenken“ zeigte, verstößt demnach nicht gegen den Pressekodex, entschied jetzt der zuständige Beschwerdeausschuss des Selbstkontrollgremiums der Presse.

Die von der Redaktion vorgenommene Bezeichnung der drei Experten als „Lockdown-Macher” habe einen Tatsachenkern und verletze deshalb nicht die journalistische Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex, stellte der Beschwerdeausschuss laut einer Pressemitteilung fest. Der Einfluss der genannten Wissenschaftler auf politische Entscheidungen über Corona-Maßnahmen ließe sich belegen. Die Bezeichnung „Die Lockdown-Macher“ sei daher eine zulässige Zuspitzung, die pointiert und streitbar sein möge, jedoch von der Meinungsfreiheit gedeckt sei.

Der Verlautbarung gemäß kamen die Mitglieder des Presserats mehrheitlich zu dem Schluss, dass auch die Darstellung der drei Wissenschaftler nebeneinander im Porträt zulässig ist und nicht das Ansehen der Presse nach Ziffer 1 des Pressekodex beschädigt. Durch ihre Auftritte in den Medien während der Corona-Pandemie hätten sich die Experten selbst in die Öffentlichkeit begeben und müssten es deshalb hinnehmen, auch persönlich kritisiert zu werden, wertete der Ausschuss.

Gegen den Beitrag bei „Bild“ und „Bild.de“ waren im Dezember des vergangenen Jahres 94 Personen und wissenschaftliche Institutionen – unter anderem die Humboldt-Universität zu Berlin – in einer Art Sammelbeschwerde vorgegangen. Sie kritisierten, der Artikel erwecke den Eindruck, dass Wissenschaftler persönlich für Corona-Maßnahmen verantwortlich seien und nicht etwa die Politik. Dies schüre Verschwörungstheorien und fördere Hetze gegen Wissenschaftler. Daraufhin hatte der Deutsche Presserat hat am 15. Dezember 2021 mitgeteilt, dass ein Beschwerdeverfahren zum Artikel eingeleitet wurde: „Im Mittelpunkt unseres Verfahrens steht die Frage, ob die Redaktion das Wahrhaftigkeitsgebot nach Ziffer 1 und ihre Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex verletzt hat“, informierte seinerzeit Presseratssprecher Sascha Borowski: „Einige Beschwerdeführer stützen sich in diesem Zusammenhang auf die Ziffer 3 des Pressekodex, nach der Behauptungen, die sich nachträglich als falsch erweisen, von der Redaktion korrigiert werden müssen.“

Über den Fall sollte der Presserat auf seiner nächsten Sitzung am 24. März 2022 entscheiden. Das ist nun geschehen.

Redaktionelle Ergänzung vom 25. März:

Rügen für Verstöße gegen Sorgfaltspflicht und Opferschutz

Insgesamt hat der Deutsche Presserat auf seinen Sitzungen vom 22. bis 24. März 17 Rügen ausgesprochen, den überwiegenden Teil davon für Verletzungen des Opferschutzes, der Sorgfaltspflicht und wegen Schleichwerbung.

So wurde „The European“ wegen eines schweren Verstoßes gegen das Gebot zur Wahrhaftigkeit nach Ziffer 1 des Pressekodex  gerügt. Das Portal hatte unter der Überschrift „Geimpfte können wahrscheinlich nie wieder volle Immunität erreichen“ über eine britische Covid-Studie berichtet. Die Redaktion hatte die Studie fehlgedeutet und behauptet, dass Ungeimpfte nach einer Erkrankung eine permanente Immunität erlangten, während Geimpfte für etwaige Mutationen anfälliger seien. Der Beschwerdeausschuss bewertete die gravierende Fehldeutung der Studie zudem als schweren Verstoß gegen die presseethischen Regelungen zur Medizin-Berichterstattung nach Ziffer 14. Die Redaktion hatte gegenüber dem Presserat den Fehler eingestanden und den Artikel gelöscht.

Gerügt wurde auch „Cicero.de“. Dort wurde unter der Überschrift „‚Herr Drosten hat Politik und Medien in die Irre geführt‘“ ein Interview mit einem Nanowissenschaftler veröffentlicht, in dem dieser dem Virologen vorwirft, die Öffentlichkeit über einen nicht-natürlichen Ursprung des Corona-Virus gezielt getäuscht zu haben, um eine Labor-Herkunft zu vertuschen. Diese Vorwürfe veröffentlichte die Redaktion ohne jede journalistische Einordnung. Der Beschwerdeausschuss sah darin einen schweren Verstoß gegen die in Ziffer 2 des Pressekodex festgehaltene journalistische Sorgfaltspflicht.

„Die Glocke“ erhielt eine Rüge wegen eines schweren Verstoßes gegen die journalistische Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 und Ziffer 14 des Pressekodex. Die Zeitung hatte auf einer Seite in fünf Artikeln Ärzte und eine Apothekerin aus der Region mit Ansichten zur Corona-Pandemie zu Wort kommen lassen, die dem Forschungsstand widersprachen. Diese bezeichneten die Impfung beispielsweise als „dramatisches Humanexperiment“ und behaupteten, sie begünstige die Wahrscheinlichkeit von Tumoren. Die Veröffentlichung erfolgte ohne jegliche journalistische Einordnung und war geeignet, unbegründete Befürchtungen zu wecken.  Zwar hatte die Redaktion in Folgeartikeln eine Einordnung nachgeholt und auch Gegenmeinungen zu Wort kommen lassen. Angesichts der Schwere des ursprünglichen Verstoßes sprach der Ausschuss dennoch eine Rüge aus.

„Bild.de“ wurde für die Berichterstattung über die Fahndung nach der Tötung von zwei rheinland-pfälzischen Polizisten im Kreis Kusel unter den Überschriften „Sie haben den Polizisten-Mörder!“ sowie „Abgeführt in Metzgerschürze!“ gerügt. Einer der Tatverdächtigen war zunächst mit einem unverfremdeten Foto identifizierend dargestellt worden. Zudem wurden die Tatverdächtigen u.a. als „Polizisten-Killer“ und „Polizisten-Mörder“ bezeichnet, obwohl keine Geständnisse vorlagen. Dies verstößt gegen die Regelungen zum Schutz der Persönlichkeit nach Ziffer 8 sowie gegen das Gebot zur Unschuldsvermutung nach Ziffer 13 des Pressekodex.
Missbrauchsopfer für Umkreis erkennbar.

Außerdem wurde „Bild.de“ für das Video einer Kindesmisshandlung gerügt. Unter der Überschrift „Baby schwer verletzt“ zeigte die Redaktion komplett verpixelte Aufnahmen einer Überwachsungskamera, auf denen ein Vater immer wieder auf seinen drei Monate alten Sohn einschlägt. Obwohl weder Täter noch Opfer erkennbar wurden, gaben die im Sprechertext beschriebenen Handlungen Aufschluss über den Tathergang, wodurch das Kind zum zweiten Mal zum Opfer wurde. In der Wiederholung einer bereits gezeigten Szene am Ende des Videos sah der Presserat eine unangemessene Darstellung von Gewalt nach Ziffer 11, Richtlinie 11.1 des Pressekodex. Die Darstellung ging über das öffentliche Interesse an dem Geschehen hinaus.

Auf den aktuellen Sitzungen des Presserats waren insgesamt 130 Beschwerden behandelt worden, wovon 86 als begründet und 44 als unbegründet erachtet wurden. Zu den Maßnahmen zählen neben den 17 öffentliche Rügen auch 16 Missbilligungen und 33 Hinweise.

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