Das Leben als Abenteuer

Filmrezension: „Elling“ von Petter Naess

„Wie verschieden die Menschen sind“, überlegt Elling, während er sich mit panisch angespanntem Gesicht von der Restauranttoilette zurück an seinen Tisch quält. „Die einen laufen mit Skiern zum Nordpol und ich erleide Höllenqualen wenn ich ein Restaurant durchqueren soll.“ Von Menschen letzterer Sorte erzählt „Elling“.

Der Oscar-nominierte Film des Norwegers Petter Naess basiert auf eine Geschichte des in Hamburg lebenden norwegischen Autors Ingvar Ambjörnsen. Die sensible und humorvolle Story bricht eine Lanze für die Verrückten und Schwachen – für Menschen, die, jenseits marktwirtschaftlicher Produktivität und Flexibilität, kämpfen müssen, mit dem alltäglichen Leben zurechtzukommen.

Elling lebte sein bisheriges Leben bei seiner Mutter, die er bedingungslos liebte. Als sie stirbt, landet er in der geschlossenen Psychiatrie. Denn alleine kommt der zarte Elling im Leben nicht zurecht. Seine größten Feinde sind die Angst und das Schwindelgefühl. In der Klinik fühlt Elling sich nicht wohl. Die Gruppengespräche, in denen ständig von ihm verlangt wird, sich zu öffnen, sind ihm ein Gräuel. Und es wird auch nicht besser, als er eines Tages eine Art „Orang Utan“ als Zimmergenossen bekommt. Der gutmütige Hundertzehn-Kilo-Mann scheint nichts anderes im Kopf zu haben als nackte Frauen und Essen.

Der „Orang Utan“ heißt Kjell Bjarne. „Dieser einfache Apostel des Lebens“ vermittelt Elling Sicherheit und wird sein bester Freund. Nach zwei Jahren Psychiatrie werden die beiden in die Wirklichkeit eines „Betreuten Wohnens“ entlassen. Um sich langsam an die Normalität zu gewöhnen, stellt ihnen das Sozialamt von Oslo eine kleine Wohnung und den ruppigen wie herzlichen Sozialarbeiter Frank zur Verfügung. Frank besteht vehement darauf, dass die beiden hinaus ins Leben gehen.

Das ist für einen wie Elling, für den ein Einkauf im Supermarkt einer Mutprobe gleich kommt das Schlimmste. Nicht einmal ans Telefon traut er sich. „Bei uns hat immer Mama abgenommen“, versucht er sich zu verteidigen. Doch mit der Zeit bekommen Kjell-Bjarne und Elling Spaß am Leben. Es beginnt mit einer Schlachteplatte in der Kneipe nebenan und einer betrunkenen hochschwangeren Frau im Treppenhaus. Das Abenteuer Leben hält Einzug und die beiden Helden wachsen über sich hinaus. Kjell Bjarne lernt die Liebe kennen und entpuppt sich als technisch begabt. Elling schließt Freundschaft zu dem Schriftsteller Alfons und entdeckt seine dichterische Ader als Sauerkraut-Poet…

Wie wird man normal? Diese Frage stellt sich nicht nur den beiden skurrilen Film-Helden. In ihren Bemühungen, das Leben zu meistern, wird die „Normalität“ für die Zuschauer immer wieder in Frage gestellt. Für den lebenserfahrenen Schriftsteller Alfons liegt in der Beziehung zu Elling mehr Wahrheit und Lebendigkeit, als in dem Haufen imponiersüchtiger Mitmenschen seiner „normalen“ Umwelt. „Andere spielen die Verrückten; Sie sind ein echter“, erkennt er voller Zuneigung.

Mit seinen beiden Helden hat Regisseur Petter Naess zwei würdige Schrullen gefunden, die den Zuschauern mit ihrem überzeugenden Spiel das Herz öffnen. Mit feinem Humor macht sein Film Mut, so zu sein wie man ist. „Ich bin eben ein Muttersöhnchen“, sagt Elling am Ende selbstbewusst. Dieser liebenswürdige Film über menschliche Schwächen gehört zweifellos zu einem der besten Filme des Jahres. Und mal ganz ehrlich: Sind wir nicht alle ein bisschen Elling?

 

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