Der Wald vor lauter Bäumen

Endlich eine klare Antwort auf Pisa

Sie hoffe, dass niemand etwas gegen „a bissle frische Wind“ habe, sagt Melanie Pröschle, eine junge Schwäbin, die voller Idealismus ihre erste Stelle in einer Karlsruher Realschule antritt. Die alteingesessenen Kollegen lächeln nur milde, sie haben längst ihre Illusionen verloren und begriffen, dass es nichts nutzt, wenn man sich um jeden Preis beliebt machen will, zu nachsichtig mit Schülern ist, sie gar über Inhalte demokratisch mitbestimmen lässt. Melanie Pröschle bleiben diese bitteren Erfahrungen nicht erspart. Zielbewusst mit deutscher Universitätspädagogik gerüstet, nimmt sie den Kampf auf, erträgt es, dass die Kinder trotz all der Sympathie, die sie ihnen entgegen bringt, ihren Unterricht unentwegt stören und sie attackieren, bis allmählich das Klassenzimmer zum Alptraum wird.

Mit „Der Wald vor lauter Bäumen“ kommt endlich eine klare Antwort auf Pisa ins Kino. Maren Ade zeigt eindringlich und mit dokumentarischer Schärfe, dass alles eigentlich noch viel schlimmer ist, als viele es ahnen oder wahrhaben wollen. Dass niemand sich über eine zunehmende Analphabetisierung wundern muss, wenn Lehrer so gnadenlose Autoritätsverluste erleiden wie die zwar eifrig bemühte aber doch heillos überforderte Protagonistin im Film. Und wenn bestimmte Umgangsformen nicht mehr im Elternhaus vermittelt werden, weil dort niemand Zeit für die Kinder hat, oder Eltern im Lehrer von vornherein einen Gegner sehen.

Gewiss: Flausen im Kopf und Streiche gespielt hat die Jugend den Paukern schon immer. Aber heute fliegen eben nicht mehr nur harmlose Papierkügelchen durch die Luft. „Ich habe ja Verständnis für die Sorgen der Kinder, ab deshalb kann ihr Sohn mir doch keinen Kaba in den Rücken werfe“, beschwert sich Melanie Pröschle bei einer Mutter. Die aber solidarisiert sich mit ihrem Sohn und gibt ihr die Schuld: Der Junge sei halt frustriert über eine schlechte Note gewesen, da sei das eine verständliche Reaktion.

Die Stärke dieses präzise beobachteten kleinen deutschen Debütfilms liegt in seiner Authentizität. Man merkt, dass in einer richtigen Schule gedreht wurde, wo die Jugend mehr oder minder sich selbst spielt. Und man fühlt mit der Lehrerin, die sich allmählich vor lauter Angst gar nicht mehr in die Klasse traut, die einfach nicht weiß, wie sie einer Horde von Halbstarken Respekt einflößen soll und schließlich in Panik einfach abhaut. In den Wald, den sie vor lauter Bäumen gar nicht mehr sieht. Man spürt, dass Maren Ade weiß, wovon sie erzählt. Selbst Lehrerkind, hat sie Versatzstücke aus ihrem Lebensumfeld verarbeitet. Gut, dass sie die Situation einmal ungeschönt zeigt, so wie sie ist. Damit endlich einmal konstruktivere Diskussionen darüber geführt werden, was geschehen muss, damit Schule nicht nur Leistungen steigert, sondern auch wieder erträglicher wird.

 

 

Der Wald vor lauter Bäumen

D 2003,
Regie: Maren Ade,
Darsteller: Eva Löbau, Daniela Holtz, Jan Neumann,
81 Min.

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