El tren blanco

In jeder Nacht pendelt ein seltsamer weißer Zug zwischen den Armenvierteln und dem Zentrum von Buenos Aires. In vielen Abteilen sind die Sitze herausmontiert, Menschen schieben Karren in die Waggons. Es sind die Cartoñeros, Papier- und Müllsammler, die für ein paar Pesos an Mülldeponien verkaufen, was zu finden ist. Geld, von dem sie ihre Familie ernähren können.

Die Filmemacher Nahuel und Ramiro García und Sheila Pérez Giménez zeichnen in ihrer Dokumentation das trostlose Leben von Arbeitslosen nach, für die die Fledderei die einzige Chance bietet, über die Runden zu kommen. Wie ein Chirurg im Bauch eines Patienten herumstochert, schlitzen diese „Kartonmenschen“ Müllsäcke auf, wühlen darin herum und holen Verwertbares heraus.

Früher haben sich die Passagiere der Abendzüge durch die sperrigen Karren und den üblen Gestank belästigt gefühlt, bis die städtische Eisenbahngesellschaft auf die Idee kam, einen eigenen „Müllzug“ mit geringen Fahrpreisen auf die Strecke zu schicken. Im Lauf der Zeit ist die Zahl der Züge noch gestiegen, weil immer mehr Bewohner der Hauptstadt in der Armut versinken.

Die Arbeitslosigkeit, eine Folge der Globalisierung und der Wirtschaftskrise, liegt Statistiken nach bei 45 Prozent. Die Regierung lässt die Betroffenen im Stich. „Zum Glück gibt es den Zug“, sagen sie, denn für die meisten von ihnen gibt es keine Alternative. Unweigerlich führt so eine dreckige Arbeit zur Frage nach Würde. Die steht auf dem Spiel, wenn man von Sachen lebt, die andere wegwerfen und obendrein noch als Lumpensammler gilt. Dennoch lassen sich diese Tagelöhner nicht unterkriegen: „Ich schäme mich nicht“, sagt eine Frau, „Papiersammeln ist immerhin eine Arbeit, die mich davor bewahrt, stehlen zu müssen.“

Monatelang haben die argentinischen Filmemacher die Cartoñeros begleitet und mit minimalen technischen Mitteln auf Video gebannt. Ihre engagierte Reportage zeigt repräsentative Einzelschicksale eines Landes, das am Ende ist, Menschen mit schlechten Zähnen, die sich keine Medikamente leisten können, und immer wieder die gleichen Bilder von nächtlichen Gespenstern, die Karren in den Zug schieben und durch die Hauptstadt ziehen.

„El tren blanco“ ist ein aufwühlender Film, weil die Armut hier keine schlimme, ferne Fantasie mehr ist, sondern bittere Realität. „Die Armut ist so, als hätten wir alle einen Strick um den Hals“, sagt ein älterer Mann, „und das macht einen fertig“. Eigentlich sollte so ein Film Pflicht sein für alle Reichen und Politiker, vor allem für jene, die auch bei uns mit rigiden sozialen Kürzungen eine wachsende Armut verantworten.

El tren blanco

Arg / E 2003,
R: Nahuel und Ramiro García, Sheila Pérez Giménez.
80 Min.

 

 

Weitere aktuelle Beiträge

Filmtipp: Code der Angst

Der Filmemacher Appolain Siewe spürt in seinem Film „Code der Angst“ der Ermordung des kamerunischen Journalisten Eric Lembembe nach. 2013 wird der junge Journalist und LGBTI*-Aktivist Lembembe in Kamerun ermordet. Dieses und weitere Verbrechen gegen Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, lassen Appolain Siewe keine Ruhe. Der Filmemacher ist in Kamerun geboren und aufgewachsen und lebt heute in Berlin.
mehr »

Kriminalität nicht mit Migration verknüpfen

Kriminelle Migranten bedrohen die Sicherheit in Deutschland“ – dieses alte rechte Narrativ wird von der AfD neu belebt und verfestigt sich in der Mitte von Gesellschaft und Politik. Medien, die diese realitätsverzerrende Erzählung bedienen, weil sie meinen, die laute Minderheit repräsentiere ein öffentliches Interesse, spielen mit dem Feuer.
mehr »

Mit BigTech gegen Pressefreiheit

Der Vogel ist frei“ twitterte der US-Milliardär und Big Tech-Unternehmer Elon Musk am 28. Oktober 2022, dem Tag seiner Übernahme des Kurznachrichtendienstes Twitter, der damals noch den blauen Vogel als Logo hatte. Der reichste Mann der Welt wollte nach eigener Aussage den Dienst zu einer Plattform der absoluten Redefreiheit machen: „Freie Meinungsäußerung ist die Grundlage einer funktionierenden Demokratie, und Twitter ist der digitale Marktplatz, auf dem die für die Zukunft der Menschheit wichtigen Themen diskutiert werden“, hatte er zuvor erklärt.
mehr »

Vernetzte Frauen im Journalismus

Sich als Frau in einer Branche behaupten müssen, in der Durchsetzungskraft und Selbstbewusstsein entscheidende Faktoren sind: Für Generationen von Journalistinnen eine zusätzliche Belastung im ohnehin schon von Konkurrenz und Wettbewerb geprägten Beruf. Angesichts dieser Herausforderung sind Netzwerke und solidarische Bündnisse von großer Bedeutung. Der Journalistinnenbund (JB) hatte hierbei seit seiner Gründung im Jahr 1987 eine Vorreiterrolle inne. Sein Anliegen: Geschlechtergleichstellung in den Medien erreichen.
mehr »