En Garde!

Am liebsten würde sie ihren Kopf in die Kissen vergraben, nichts hören und nichts sehen. Traurig, gleichmütig und abwesend geht Alice durchs Leben, lässt niemanden an sich heran, erwidert keinen Blick, schenkt noch nicht einmal denen ein Lächeln, die es gut mit ihr meinen: Berivan zum Beispiel, eine kurdische Mitschülerin in dem Mädcheninternat für Schwererziehbare und Abgeschobene, zu der aber Alice erst Vertrauen gewinnen muss, denn Freundschaft und Liebe hat sie zu Hause nicht kennen gelernt.

Von Anfang an war sie ihrer Mutter eine Last: „Als ich geboren wurde, konnte sie nichts mit mir anfangen und gab mich zur Oma. Heute bin ich 16 und meine Mutter kann immer noch nichts mit mir anfangen“. Und weil die Oma gerade gestorben ist, bleibt für Alice nur noch das Erziehungsheim. „Die sind ein bisschen katholisch hier, aber sehr nett“: Mehr hat die Mutter ihr beim Abschied nicht zu sagen.

Für Alice beginnt eine schwierige Zeit: Ihre Zimmergefährtinnen terrorisieren und demütigen sie, zudem erleidet sie einen Hörsturz und muss fortan Lärmstöpsel tragen. Alice schließt sich Berivan an. Die Kurdin hat wie viele andere Mädchen im Heim ihre Eltern auf tragische Weise durch Tod verloren, kann sich aber zumindest damit trösten, dass sie von ihnen nicht verstoßen wurde. Als Alice allmählich beginnt, sich ein wenig zu öffnen, selbstbewusster zu sein und an der Freundschaft Gefallen findet, kommt ein Dritter ins Spiel: Ilir, ein junger Mann, der sein Geld als Pizzafahrer verdient. Berivan verliebt sich in ihn, Alice fühlt sich verlassen und zurückgesetzt, ist eifersüchtig und rastet aus.

Die kurdisch-deutsche Regisseurin Ayse Polat hat Mädchen wie Alice und Berivan kennen gelernt. Sie weiß, wovon sie erzählt. „En Garde“ ist ein trister, beklemmender Film, der glaubwürdig und virtuos einen großen Bogen um eine Vielzahl gesellschaftlicher Probleme schlägt: Junge überforderte Mütter, ungewollte Schwangerschaften, zermürbende Asylverfahren, einsam, verloren wirkende junge Menschen ohne Ziele, Träume und Illusionen. Bei aller Tristesse gibt es dennoch ein paar Hoffnungsfunken: Beim Fechtunterricht beginnt Alice ihrem Kokon zu entschlüpfen. Diesen Sport nutzt die Regisseurin zugleich als eine wunderbare Metapher für den Entwicklungsprozess ihrer Heldin, die zunächst im Leben wie im Fechten unsichere Schritte macht, allmählich jedoch lernt anzugreifen, ihrem Gegenüber Respekt zu zollen und Mut zu fassen. So hat Alice am Ende, wenn sich die Wege der Mädchen nach dem dramatischen Todesfall einer Betreuerin trennen, wenigstens etwas, das sie mutig in die Zukunft blicken lässt: „En Garde! und los. Manchmal gibt man sich dem Spiel hin und verliert sich darin. Dann vergisst man sich. Man vergisst die Zeit und die Angst. Das sind die schönsten Momente.“

 


Buch und Regie: Ayse Polat
94 Min.,
Deutschland 2004
Filmstart: 11.11.2004


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