Sweet Sixteen

Anwalt der Arbeiterklasse mit sicherem Gespür für Authenzität

Man muss schon in armen Verhältnissen und ohne Perspektiven aufgewachsen sein wie der 15-jährige Liam (Martin Crompston), um sich nichts Schöneres vorstellen zu können, als in einem Wohnwagen zu leben. Umso bitterer, wenn sich selbst ein derart bescheidenes Glück nicht auf legale Weise verwirklichen lässt.

Einmal mehr machen sich Ken Loach und sein schottischer Drehbuchautor Paul Laverty, die zu den wenigen Filmschaffenden Englands zählen, die überhaupt noch Politkino machen, zum Anwalt der Arbeiterklasse mit einem sicheren Gespür für Authentizität. Dabei profitiert „Sweet Sixteen“ von den eigenen Beobachtungen und Erfahrungen von Laverty, der auch die Drehbücher zu „Carla’s Song“, „My Name is Joe“ und „Bread and Roses“ schrieb und zuvor für eine Menschenrechtsorganisation arbeitete. Der Film handelt von einem aufgeweckten, intelligenten Burschen, der einfach nicht die Chance hat, seine Integrität zu wahren. Verständlich, dass der Junge nach einem Ausweg sucht, dem Freund seiner Mutter, einem Drogendealer (Gary McCormack) zu entkommen. Liams Mutter (Michelle Coulter) sitzt im Knast. Liam zählt die Tage bis zu ihrer Entlassung. Dann soll sich alles ändern. Bis dahin will er den Wohnwagen kaufen, um dort mit der Mutter und seiner Schwester, einer alleinerziehenden Mutter, ein neues harmonisches Leben zu beginnen.

Doch das fehlende Kapital stellt Liam vor eine ausweglose und widersprüchliche Situation, verstrickt ihn immer mehr in einen Teufelskreis, dem er eigentlich entkommen will. Sein Schicksal steht stellvertretend für das vieler Teenager in Ländern, die von Wirtschaftskrisen erdrückt werden. Zwar gilt Loachs unmittelbare Anklage der Regierung Tony Blairs, die es verantwortet, dass rund vier Millionen Kinder und Jugendliche in Großbritannien unterhalb der Armutsgrenze leben. Gleichwohl darf sich auch die rot-grüne Bundesregierung angesprochen fühlen, die soziale Leistungen abbauen will.

Die Ironie des Titels ist bewusst gewählt: Liams Leben ist alles andere als süß, weil ihm die Freuden und Hoffnungen der Jugend verwehrt bleiben. Wie von selbst driftet der Held immer tiefer in die Kriminalität ab. Anfangs verhökert er mit seinem übermütigen Kumpel Pinball (William Ruane) geschmuggelte Zigaretten. Schon bald aber beschließt er, selbst mit Drogen zu handeln, um den ersehnten Wohnwagen zu kaufen. Er klaut dem Freund seiner Mutter den Stoff und wird zum ernsthaften Konkurrenten für hartgesottene Gangster. Die wiederum erkennen seine Cleverness und heuern ihn an. Binnen Kürze zieht Liam einen florierenden Betrieb auf, indem er als Mitfahrer von Pizzakurieren Drogen ausliefert. Doch nicht nur entfernen ihn seine Delikte zusehends von einem Ziel und bringen ihn in Gefahr. Die Utopie, die er für die Familie schaffen will, scheitert bei aller guten Absicht an Liams Weltfremdheit und einem Mangel an Lebenserfahrung. Zurecht verärgert reagierte Laverty, dessen Drehbuch letztes Jahr in Cannes preisgekrönt worden war, über die britische Zensurbehörde, die „Sweet Sixteen“ wegen „very strong language“ erst ab 18 Jahren freigab. „Man darf Leute in die Luft sprengen, rassistisch sein und Tausende umbringen wie in ‚Black Hawk Down‘, aber die Sprache der Straße ist irgendwie unzulässig, wenn sie mit dem Akzent der Arbeiterklasse gesprochen wird“, beklagte er in einem Interview. Offenbar sollen Englands Kids keine Filme sehen, die ihre elende Realität widerspiegeln.


GB / D / E 2002
Regie: Ken Loach, Buch: Paul Laverty
Darsteller: Martin Crompston, Michelle Coulter, William Ruane, u.a.
106 Min.

 

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