Digitalisierung des Kulturerbes: Von lokalen Projekten bis zur Weltbibliothek
„Was nicht im Netz ist, wird nicht in der Welt sein.“ Davon zeigte sich Paul Klimpel von der Deutschen Kinemathek bei der Konferenz „Ins Netz gegangen – Neue Wege zum kulturellen Erbe“ Mitte November in Berlin überzeugt. Neue digitale Wege zum europäischen Kulturerbe bietet bereits seit 2008 die „Europeana“ der Europäischen Union mit inzwischen 20 Millionen Digitalisaten. Auch eine „World Digital Library“ ist mit über 4.000 besonderen Exponaten im Netz. Nur das geplante zentrale Portal des deutschen Kulturerbes, die „Deutsche Digitale Bibliothek“, lässt noch auf sich warten.
Die Berliner Konferenz, veranstaltet von Internet & Gesellschaft Co:llaboratory, der Deutschen Kinemathek, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Wikimedia, widmete sich den „Auswirkungen des Informationszeitalters auf Bibliotheken, Archive und Museen“. Klimpel, der auch Leiter der Arbeitsgruppe „Kulturelles Erbe und digitale Welt“ der Internet & Gesellschaft Co:llaboratory ist, eines eher informellen Bunds aus Kultur-, Wissenschafts- und Internetexperten mit Kooperationspartner Google, erklärte, nicht-digitalisierte Kulturgüter drohten „in einem schwarzen Loch des Vergessens“ zu verschwinden.
Um diesem Vergessen vorzubeugen, sind zahlreiche deutsche Bibliotheken, Museen und Archive derzeit dabei, ihre Schätze einzuscannen und nicht nur im Lesesaal oder in den Ausstellungsräumen zugänglich zu machen. An vorderster Stelle tut dies die Bayerische Staatsbibliothek in München, die ihr Online-Angebot von Handschriften und Büchern im März 2011 auf eine halbe Million steigern konnte. Dabei arbeitet die Staatsbibliothek im Bereich der Bücher seit 2007 mit Google zusammen, ein Weg, für den sich inzwischen auch die Österreichische Nationalbibliothek entschlossen hat. Der Konzern hat das Einscannen für die Münchner Bibliothek auf eigene Kosten übernommen, die öffentliche Nutzung ist gewahrt. Im Gegensatz zu den USA scannt Google hier bisher nur Bücher, auf denen keine Urheberrechte mehr liegen, speziell Ausgaben aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Davon besitzt die Münchner Staatsbibliothek rund eine Million Ausgaben, die bis 2014 im Netz zugänglich sein sollen.
Bei seiner Kooperation mit fünf amerikanischen Universitäten hat sich Google nicht auf sogenannte gemeinfreie Werke beschränkt, sondern auch verwaiste Werke, deren Urheber nicht mehr festgestellt oder gefragt werden können, obwohl die Frist von 70 Jahren noch nicht abgelaufen ist, und urheberrechtlich geschützte Bücher eingelesen. Das hat den Universitäten und Google Klagen von Autorenverbänden eingebracht. Die gerichtliche Klärung des Google Settlement ist noch offen, der nächste Termin ist am 12. Dezember (siehe dazu den Bericht in M 10/2011).
Die Münchner Staatsbibliothek hat die Nase nicht nur beim Einlesen ihrer Schätze vorn, sie geht auch offensiv auf die User zu und bietet Apps zu besonderen Kostbarkeiten wie ihrer Sammlung orientalischer Prachthandschriften oder zu dem bei Bayern-Touristen so beliebten König Ludwig II., dies natürlich auch in englischer Sprache. Für viele kleinere Bibliotheken, Museen und Archive ist das Digitalisieren finanziell wie personell ein kaum zu leistender Aufwand. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise hat deshalb die Universität Greifswald die Vorreiterrolle für eine digitale Landesbibliothek übernommen.
Entsprechend der föderalen Struktur Deutschlands mit ihren vielen, seit Jahrhunderten bedeutenden Kulturzentren, gibt es viele lokale und regionale Digitalisierungsbestrebungen, verschiedene thematische Komplexe und auch einen Hang zur Selbstdarstellung der Institutionen. So hat die Goethe-Universität in Frankfurt/Main in den vergangenen zwei Jahren zusammen mit Wissenschaftlern aus zehn europäischen Institutionen nach eigener Aussage Millionen von Dokumenten zur jüdischen Kultur in einer Datenbank zusammengetragen und wird Ende 2011 das von der Europäischen Union mit 1,5 Millionen Euro geförderte Projekt „Judaica Europeana“ abschließen. Die Uni- und die Stadtbibliothek Trier melden stolz, dass sie die Handschriften der Benediktinerabtei St. Matthias in die „Manuscripta medievalia“ einspeisen können. Diese macht derzeit mehr als 75.000 abendländische Handschriften aus überwiegend deutschen Bibliotheken zugänglich. Träger dieser Internet-Sammlung mittelalterlicher Handschriften sind die Bayerische Staatsbibliothek, das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg und die Staatsbibliothek zu Berlin (Stiftung Preußischer Kulturbesitz). Letztere arbeitet mit der Uni Oxford beim Sammeln von Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg zusammen und hat vor kurzem ein gemeinsames Digitalisierungsprojekt mit der Polnischen Nationalbibliothek angekündigt.
Was noch fehlt in all den deutschen Bemühungen ist die Klammer, das von Kulturstaatsminister Bernd Neumann angekündigte Portal einer Deutschen Digitalen Bibliothek DDB. Frank Simon-Ritz, Direktor der Unibibliothek in Weimar und Vorstandsmitglied des Deutschen Bibliotheksverbands, schätzte die Kosten der Digitalisierung in einem Gespräch mit dem RBB auf zehn Millionen Mark jährlich in den kommenden fünf Jahren. Die DDB wurde im Dezember 2009 von der Bundesregierung mit einer Aufbaufinanzierung von fünf Millionen Euro, auch für die technologische Entwicklung durch das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme in St. Augustin, und einer jährlichen Summe von 2,6 Millionen durch Bund und Länder ausgestattet. Die Anschubfinanzierung ist inzwischen auf acht Mio Euro aufgestockt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG ist groß in die Förderung der Digitalisierung eingestiegen, etwa mit Kooperationsprojekten bedeutender Bibliotheken zum Katalogisieren und Einlesen aller Frühdrucke in Deutschland.
Den Bundestag wird das Thema ebenfalls weiter beschäftigen. Es liegen Anträge von vier Fraktionen zur Unterstützung der DDB vor, die Linke fordert sogar eine Fördersumme von 30 Millionen Euro. Im Mai 2011 hat Kulturstaatsminister Neumann in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig erklärt, dass der enorme Finanzbedarf für die Digitalisierung alles übersteige, was Bund, Länder und Kommunen leisten könnten. Deshalb stehe er einer Kooperation der Kultureinrichtungen mit der Privatwirtschaft „aufgeschlossen“ gegenüber, wenn „keine privaten Informationsmonopole“ entstünden und „die Urheberrechte gewahrt“ würden – „so wie es die Bayerische Staatsbibliothek ja schon erfolgreich praktiziert“.
Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Vorstandssprecher der DDB, erklärte bei der Konferenz „Ins Netz gegangen“, dass Deutschland jetzt schon enormen Nachholbedarf habe, andere Länder wie Großbritannien und Frankreich seien schneller. So habe Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy 750 Millionen Euro für das digitale Kulturerbe versprochen – vor der jüngsten Wirtschaftskrise. Allerdings will Frankreich auch rund eine halbe Million vergriffener Bücher aus dem 20. Jahrhundert digitalisieren und die Digitalisate in den Verkauf bringen. Dafür müsse wohl das französische Urheberrecht geändert werden, spekulierte das Börsenblatt im Februar. Die British Library hat inzwischen trotz energischen Widerspruchs der Verlegerfamilie Murdoch 40 Millionen Zeitungsseiten aus den vergangenen 350 Jahren digital zugänglich gemacht.
Die Deutsche Digitale Bibliothek wird jedenfalls nicht, wie vom Kulturstaatsminister wiederholt angekündigt, Ende dieses Jahres online gehen. Wie die Koordinatorin des DDB-Aufbaus, Ute Schwens von der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main, zu M sagte, sei damit wohl erst im Sommer 2012 zu rechnen. Der Aufbau hinge von der Geschwindigkeit der zuliefernden Institutionen ab, in vielen Museen und Archiven sei aber noch nicht viel geschehen. Dieser umfassende Anspruch – Neumann bezifferte die Zahl der gefragten Institutionen auf 30.000 – hatte schon im vergangenen Jahr heftigen Widerspruch ausgelöst. So erklärte der Vorgänger Parzingers bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und jetzige Präsident des Goethe-Insituts, Klaus-Dieter Lehmann, im Börsenblatt, der Start der DDB sie mit zu vielen und zu heterogenen Partnern geplant, typisch „deutscher Vollständigkeitswahn“. Der Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek Rolf Griebel empfahl im Spiegel, sich auf ausgewählte Schwerpunkte und Themen zu konzentrieren.
Eine Konzentration auf die großen Zulieferer wie die Münchner Bibliothek sieht auch Ute Schwens als den geeigneten Weg, die virtuellen Regale der DDB schnell zu füllen. „Wenn wir online gehen, muss auch schon ein bisschen was drin sein“, erklärte sie M. Unter „ein bisschen was“ versteht die Koordinatorin ein bis zwei Millionen digitale Exponate, also bis zum Vierfachen dessen, was die Staatsbibliothek in München derzeit zu bieten hat. Die DDB werde das aufnehmen, was jetzt schon deutscher Beitrag in der Europeana sei und künftig als Aggregator dem europäischen Portal dienen. Dabei sollen den deutschen Institutionen die vom Fraunhofer-Institut entwickelten Tools für eine einheitliche Digitalisierung zur Verfügung gestellt werden.
Bis dahin muss der kulturbegeisterte Internetnutzer noch direkt auf die Seiten der großen Bibliotheken zugreifen, in der Suchmaschine des Europäischen Rats The European Library nachschauen oder sein Objekt der Begierde bei der Europeana mit ihren inzwischen 20 Millionen Exponaten suchen. Und für den weltweiten Kulturgenuss „absoluter Spitzenstücke“ (so die mit 18 Stücken beteiligte Bayerische Staatsbibliothek) steht die noch sehr kleine World Digital Library von UNESCO und der US-Library of Congress zur Verfügung.
Mit weniger Besuchern in Lesesälen und Ausstellungen rechnen die Vorreiter des Kulturgenusses am Schreibtisch dennoch nicht: 120 Millionen Besuche verzeichneten die öffentlichen Bibliotheken in Deutschland im vergangenen Jahr. „Nie waren die Lesesäle so gut besucht wie heute“, hieß es im Juni 2011 beim 100. Bibliothekentag in Berlin. Wie Konferenzleiter Klimpel im Saarländischen Rundfunk meinte: „Das Netz zieht die Leute zu den Originalen.“ Deshalb wird es auch für die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel kein Nachteil sein, dass sie die Prachtstücke ihrer Ausstellung „Verklingend und ewig – 1.000 Jahre Musikgedächtnis“ (bis 26. Februar 2012), jetzt stolz im Netz präsentieren kann: Zwei Pergamente aus dem 13. Jahrhundert mit polyphonen Kompositionen aus der Kathedrale Notre-Dame in Paris.
Links
www.ins-netz-gegangen.org
www.deutsche-digitale-bibliothek.de (ddb.de)
www.manuscripta-mediaevalia.de
www.europeana.eu
www.theeuropeanlibrary.org
www.worlddigitallibrary.org (wdl.org/en)