Istanbul: Absurde Anklage gegen weitere Journalisten

Mit einer Kampagne setzt sich Reporter ohne Grenzen seit Monaten für die Freilassung und gegen die Anklage ihres Türkei-Korrespondenten ein. Foto: ROG

In Istanbul begann heute ein Prozess gegen drei weitere Journalisten und eine Menschenrechtsaktivistin. Erol Önderoglu, dem Türkei-Korrespondenten von „Reporter ohne Grenzen“ (ROG), dem „Cumhuriyet“-Kolumnisten Ahmet Nesin und Sebnem Korur Fincanci, der Vorsitzenden der türkischen Menschenrechtsstiftung, wird wegen ihrer Teilnahme an einer Solidaritätsaktion mit der Zeitung „Özgür Gündem“ Propaganda für eine terroristische Organisation vorgeworfen. Das gilt auch für den letzten „Özgür-Gündem“-Chefredakteur Inan Kizilkaya. Wir sprachen mit ROG-Prozessbeobachterin Anne Renzenbrink.

Önderoglu, Fincanci und Nesin hatten ebenso wie 40 weitere Journalistenkollegen und Prominente im Frühjahr jeweils für einen Tag symbolisch den Posten des Chefredakteurs der pro-kurischen Zeitung „Özgür Gündem“ übernommen. Die Teilnahme an der Solidaritätsaktion reichte der Staatsanwaltschaft zum Vorwurf der Terror-Propaganda. Am 20. Juni 2016 wurden die drei in Istanbul verhaftet und kamen erst nach zehn Tagen auch dank internationaler Proteste unter Auflagen frei. Nach dem gescheiterten Putschversuch spitzte sich die Lage weiter zu. Ein Gericht ließ im August die Räume von „Özgür Gündem“ wegen angeblicher Verbreitung von Propaganda für die verbotene kurdische Untergrundorganisation PKK versiegeln, Chefredakteur Kizilkaya wurde am 16. August verhaftet. Am 29. Oktober wurde das Blatt per Regierungsdekret endgültig geschlossen.

Reporter-ohne-Grenzen-Pressereferentin Anne Renzenbrink verfolgte den Prozessauftakt am 8. November in Istanbul. Foto: ROG
Reporter-ohne-Grenzen-Pressereferentin Anne Renzenbrink verfolgte den Prozessauftakt am 8. November in Istanbul. Foto: ROG

M |  Reporter ohne Grenzen, Protestierende aus aller Welt und Menschenrechtsorganisationen im Lande selbst fordern die türkische Justiz auf, die Anschuldigungen fallenzulassen. Das hat das Gericht heute nicht getan?

Anne Renzenbrink | Nein, die Verhandlung ist gestartet. Die Anklage wird aufrechterhalten. Allerdings wurde der Prozess nach einer knappen Stunde unterbrochen und auf den 11. Januar 2017 vertagt.

Wieso das?

Das kam nicht unerwartet. Die türkische Justiz ist auch in anderen ähnlich gelagerten Fällen schon so verfahren.

Und was geschah heute im Gerichtssaal?

Neben Prozessformalien haben sowohl unser Kollege Erol Önderoglu als auch die Menschenrechtsaktivistin Sebnem Korur Fincanci mit ihren Anwälten die Gelegenheit zur Verteidigung genutzt. Sie haben die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft als haltlos zurückgewiesen und ihre Ausführungen dem Gericht auch schriftlich übergeben. Zu weiteren inhaltlichen Erörterungen kam es nicht.

Wie stark ist das öffentliche Interesse an dem Prozess?

Es hat bereits heute Morgen eine Pressekonferenz von türkischen Menschenrechtsorganisationen stattgefunden, auch kurz vor Prozessbeginn gab es nochmals eine Medieninformation. Der Gerichtssaal war überfüllt, viele Zuhörer standen, ich habe mir meinen Sitzplatz geteilt. Sowohl internationale Medien als auch die einheimische Presse waren vor Ort.

Ihr vorläufiges Fazit?

Auch wenn jetzt vertagt wurde, der wesentliche Punkt ist natürlich, dass die absurden Anschuldigungen weiter bestehen bleiben. Chefredakteur Kizilkaya bleibt auch weiterhin in Haft. Das darf nicht hingenommen werden, die Solidarität mit den Angeklagten muss weitergehen. Für mich war es auch unerträglich, unseren Kollegen Erol, der sich selbst seit Jahren für Verfolgte und die Menschenrechte einsetzt, auf der Anklagebank zu sehen.


Erol Önderoglu ist seit 1996 Türkei-Korrespondent von „Reporter ohne Grenzen“. Daneben verfasst er die Quartalsberichte der alternativen türkischen Nachrichtenagentur Bianet zum Stand der Meinungsfreiheit in der Türkei, arbeitet regelmäßig mit der OSZE zusammen und ist Vorstandsmitglied von IFEX (International Freedom of Expression Exchange), einem weltweiten Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen. Ihm werden jetzt speziell drei am 18. Mai in Özgür Gündem erschienene Artikel zur Last gelegt, in denen es um Machtkämpfe innerhalb der türkischen Sicherheitskräfte und um Einsätze gegen die PKK in Südostanatolien ging.

Der jetzt begonnene Prozess gegen Önderoglu, Financi und Nesin reiht sich ein in eine lange Liste von Prozessen gegen Journalisten, die auf der Grundlage der türkischen Anti-Terror-Gesetze angestrengt werden. Momentan sitzen mindestens 130 Journalisten in Haft. Allein im dritten Quartal dieses Jahres wurden laut Bianet 117 Journalisten vor Gericht gestellt. Für sie verlangten die Staatsanwaltschaften insgesamt 880 Jahre und sechs Monate Haft. Dutzende weitere Journalisten mussten sich wegen Vorwürfen wie Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung einer terroristischen Organisation, Veröffentlichung vertraulicher Dokumente zur nationalen Sicherheit oder Verunglimpfung des Präsidenten verantworten.

Am 16. November wird auch der Prozess gegen den ehemaligen Chefredakteur der unabhängigen Tageszeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, und den Hauptstadtbüroleiter des Blattes, Erdem Gül, wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Organisation fortgesetzt.

Die Türkei stand schon vor dem Putschversuch im Juli auf der jährlichen Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 151 von 180 Staaten.

Weitere Informationen zur Lage der Journalisten und Medien unter www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei.

 

 

 

 

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