Türkei: Wird die Ausnahme zur Regel?

Protestaktion in Stuttgart 2017
Foto: ver.di

In der Türkei hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach zwei Jahren den Ausnahmezustand für beendet erklärt. Doch noch immer sitzen in dem Land nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (ROG) mehr als 100 Medienschaffende im Gefängnis. Weitere wie etwa Deniz Yücel oder der Türkei-Korrespondent von ROG, Erol Önderoglu, stehen noch immer unter Anklage. Einzig positive Nachricht: Der Freispruch des Cumhuriyet-Büroleiters Erdem Gül. Die Zeichen verdichten sich, dass der Ausnahmezustand in der Türkei zur Regel wird.

Zumal es Erdogan mit den Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni gelungen ist, seine Machtfülle weiter auszubauen und dauerhaft zu festigen. Der Freispruch des Cumhuriyet-Journalisten vom 16. Juli scheint da nur ein winziger Lichtblick. Gül war 2016 wegen Geheimnisverrats zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Ebenso wie der mittlerweile im deutschen Exil lebende Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung, Can Dündar, gegen den das Verfahren noch immer anhängig ist. Ihm droht hingegen eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren.

Auch gegen den Welt-Korrespondenten Deniz Yücel, der im Februar aus seiner einjährigen Untersuchungshaft entlassen worden war, hat am 28. Juni in Istanbul der Prozess begonnen. Yücel, der nicht zum Prozessauftakt gereist war, werden in der lediglich drei Seiten umfassenden Anklageschrift unter anderem „Propaganda für eine Terrororganisation“ und „Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindseligkeit“ vorgeworfen. Die Forderung Yücels‘ Anwalt, Veysel Ok, den Journalisten freizusprechen, lehnte das Gericht ab. Nach nur einer Dreiviertelstunde wurde der Prozess auf den 20. Dezember vertagt. Anwalt Ok steht indes selbst vor Gericht, weil er im Jahr 2015 in einem Zeitungsinterview die türkische Justiz kritisiert haben soll. Sein Prozess wurde am 4. Juli fortgesetzt, da der vorsitzende Richter sich für befangen erklärte, aber nach wenigen Minuten auf den 22. November vertagt. Über den Fall Yücel wird hingegen auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheiden, vor dem der Journalist selbst im April 2017 Beschwerde gegen seine Haft eingereicht hatte. Auf Anfrage von M teilte eine Pressesprecherin des EGMR mit, dass es noch keine konkrete Frist für die Bearbeitung der Beschwerde Yücels gebe: „Das bedeutet, dass der EGMR den Fall auf Grundlage der ihm vorliegenden Informationen, inklusive der Entwicklungen seit Einreichen der Beschwerde, prüfen wird.“ Vermutet werden darf, dass die Freilassung Yücels im Februar zu einer Neubewertung seines Falls geführt hat, sodass die Entscheidung voraussichtlich nicht, wie Ende Januar von Epochtimes unter Berufung auf die Nachrichtenagentur afp vermeldet, Ende Juli fallen wird.

Einen Tag vor Yücels Prozess hatte ein Gericht in Istanbul dagegen nach 21monatiger Untersuchungshaft die Freilassung des 65jährigen Journalisten Mehmet Altan angeordnet. Er war im Februar wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden und ist nun zunächst für die Dauer seines Berufungsprozesses freigekommen. Das türkische Verfassungsgericht hatte bereits im Januar geurteilt, dass die Untersuchungshaft von Altan und des ebenfalls klagenden Journalisten Şahin Alpay gegen das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verstoße und die beiden deshalb freigelassen werden müssen. Die zuständigen Gerichte hatten sich dem Urteil jedoch widersetzt, lediglich Alpay war im März aus der Untersuchungshaft entlassen worden.

Am 6. Juli wurde Alpay, der für die mittlerweile geschlossene Zeitung „Zaman“ arbeitete, zusammen mit fünf seiner Kollegen von einem Gericht in Istanbul zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, vier weitere Mitarbeiter wurden freigesprochen. Alpay und Ali Bulac wurden zu acht Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt, werden aber unter Auflagen freigelassen, meldete die private Nachrichtenagentur DHA. Ihre Kollegen Mümtazer Türkone und Mustafa Ünal, die bereits im Gefängnis sitzen, müssen für zehn Jahre und sechs Monate hinter Gitter. Zwei weitere Zaman-Journalisten wurden zu neun Jahren sowie acht Jahren und neun Monaten verurteilt, kommen jedoch ebenfalls unter Auflagen frei. Wie auch Alpay und Bulac dürfen sie die Türkei nicht verlassen. Verurteilt wurden alle sechs wegen Verbindungen zum Putschversuch vom Juli 2016 und zur Gülen-Bewegung.

Weiterhin anhängig ist das Verfahren gegen den Türkei-Korrespondenten von ROG, Erol Önderoglu, der am 20. Juni 2016 verhaftet wurde und zusammen mit 33 weiteren Journalisten angeklagt wurde, weil sie sich an einer Solidaritätsaktion für die pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem beteiligt hatten. Nach zehntätiger Untersuchungshaft war Önderoglu freigelassen worden, sein Prozess begann am 8. November 2016, wurde seitdem immer wieder vertagt. Der nächste Prozesstermin wurde auf den 9. Oktober festgesetzt.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Wie ethisch kann KI berichten?

Ein ethischer Kompass ist angesichts zunehmender Desinformation immer wichtiger – für Journalist*innen, aber auch Mediennutzende. Positivbeispiele einer wertebewussten Berichterstattung wurden jüngst zum 20. Mal mit dem Medienethik Award, kurz META, ausgezeichnet. Eine Jury aus Studierenden der Stuttgarter Hochschule der Medien HdM vergab den Preis diesmal für zwei Beiträge zum Thema „Roboter“: Ein Radiostück zu Maschinen und Empathie und einen Fernsehfilm zu KI im Krieg.
mehr »

VR-Formate im Dokumentarfilm

Mit klassischen Dokumentationen ein junges Publikum zu erreichen, das ist nicht einfach. Mit welchen Ideen es aber dennoch gelingen kann, das stand auf der Sunny Side of the Doc in La Rochelle im Fokus. Beim internationalen Treffen der Dokumentarfilmbranche ging es diesmal auch um neue Erzählformen des Genres wie Virtual Reality (VR).
mehr »

Erneute Streiks bei NDR, WDR, BR, SWR 

Voraussichtlich bis Freitag werden Streiks in mehreren ARD-Sendern zu Programmänderungen, Ausfällen und einem deutlich veränderten Erscheinungsbild von Radio- und TV-Sendungen auch im Ersten Programm führen. Der Grund für den erneuten Streik bei den großen ARD-Rundfunkanstalten ist ein bereits im siebten Monat nach Ende des vorhergehenden Tarifabschlusses immer noch andauernder Tarifkonflikt.
mehr »

krassmedial: Diskurse gestalten

Besonders auf Social-Media-Plattformen wie TikTok und Telegram verbreiten sich rechtsextreme Narrative, die zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Wie Journalist*innen dem entgegen wirken und antidemokratische Diskursräume zurückgewinnen können, diskutierten und erprobten etwa 70 Teilnehmende der diesjährigen #krassmedial-Sommerakademie von ver.di am Wochenende in Berlin-Wannsee.
mehr »