Wahlsieg gegen die Pressefreiheit  

Karikatur (Archiv 2016): Kostas Koufogiorgos

Meinung

Angst und Verzweiflung. Das sind die Gefühle vieler Journalist*innen nach dem erneuten Wahlsieg des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) am Sonntag in der Türkei. Sind sie begründet? Was kommt als Nächstes auf die am Boden liegende Pressefreiheit zu? Und wie könnte es trotz allem weitergehen? Eine Kolumne aus Istanbul. 

Schlimmer kann es eigentlich nicht mehr werden.“ Das ist die prompte Reaktion der meisten Journalist*innen, fragt man sie nach den Folgen des Wahlergebnisses für die Pressefreiheit in der Türkei. Diesen Eindruck untermauert die kürzlich erschienene Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RSF): Dort stürzte das Land um 21 Ränge ab auf Platz 165 von insgesamt 180 beurteilten Staaten und liegt damit noch hinter Afghanistan und Russland.

Schon jetzt sitzen in der Türkei mindestens 58 Medienschaffende im Gefängnis. Jetzt noch mit ihrer Freilassung oder der Einstellung der Dutzenden unfairen Gerichtsverfahren zu rechnen, wäre töricht. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die genau das verlangen und welche der Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) im Falle seines Wahlsiegs zu respektieren versprochen hatte, werden die Gerichte unter Erdoğan wohl weiterhin ignorieren.

Strafverfahren wegen nicht genehmer Wahlberichterstattung

Das sogenannte „Desinformationsgesetz“, das im Oktober verabschiedet und hier von allen nur „Zensur-Gesetz“ genannt wird, stellt ein Instrument dar, das zwar schon angewandt, aber noch nicht annähernd ausgeschöpft wurde. Damit ließe sich die öffentliche Debatte, die ohnehin fast nur noch in den Sozialen Medien stattfindet, noch weiter zügeln.

Nicht neu, aber bedenklich, insbesondere wenn dieses Instrument der Regierung noch häufiger zum Einsatz kommt, ist die staatliche Medienaufsichtsbehörde RTÜK. Nur zwei Tage nach der Stichwahl kündigte sie ein Ermittlungsverfahren gegen die Journalistin Çiğdem Toker an, weil diese in der Wahlnacht bei FOX News den Hinweis gewagt hatte, dass es für eine Demokratie mehr als Wahlen braucht. Und schon am Montag hatte RTÜK mitgeteilt, Strafen für sieben Fernsehsender, darunter etwa Halk TV, zu verhängen. Der Vorwurf: Die Medien hätten angeblich das Sendeverbot am Wahltag nicht eingehalten.

Aus diesem Grund prognostiziert der Vertreter von RSF in der Türkei, Erol Önderoğlu, gegenüber M: „Uns stehen schwierige Tage bevor.“ Viele Journalisten, mit denen er zu tun habe, treibe unter anderem Angst vor wachsender Willkür und zunehmender Straflosigkeit um. Verstärkt würden diese Sorgen durch erste „feindselige Botschaften“, die die Regierung direkt nach der Wahl versprüht hat. „Wir befürchten radikalere und gezieltere Schritte, um auch die letzten kritischen Medien noch loszuwerden“, sagt er. Önderoğlu sieht darin sowohl eine „politische Rache“ für deren kritische Berichterstattung vor und während der Wahl als auch einen strategischen Schritt Erdoğans, die „Hyperpräsidentschaft“ weiter auszubauen.

Daumenschrauben können noch fester gezurrt werden

Wie schlecht es kritischen Journalist*innen in der Türkei dieser Tage geht, können in Deutschland womöglich diejenigen etwas nachempfinden, die schon einmal Attacken im Netz, Angriffe auf der Straße, fragwürdige Urteile, rechtswidrige Razzien oder Polizeigewalt erlebt haben. Blickt man von außen auf die Türkei und vergleicht man sie mit noch autoritäreren Regimen aus Gegenwart und Vergangenheit, wird sofort klar: Schlimmer geht immer. Die Kolleg*innen in der Türkei wissen: Das Regime kann die bereits angelegten Daumenschrauben noch fester zurren.

Bei aller Repression genießt in der Türkei aktuell vor allem die ausländische Presse noch ein gewisses Maß an Freiheit. Maximilian Popp und Özlem Topçu vom Magazin „Der Spiegel“ erzählen im Gespräch mit M unter anderem: In letzter Zeit fanden sie es einfacher, Akkreditierungen für die journalistische Arbeit in der Türkei zu erhalten. Noch bis vor ein, zwei Jahren hatte das Regime diese als bürokratische Waffe genutzt. Anträge dauerten ewig oder wurden ganz abgelehnt. Doch das kann sich jederzeit wieder ändern. „Dafür funktioniert das Ein-Mann-System viel zu willkürlich“, so Popp.

Auch Medien wie die Deutschen Welle, die schon seit Längerem gegängelt wird, könnte mit einem vollständigen Verbot belegt werden – so wie es ihr im Februar vergangenen Jahres in Russland geschehen ist. Zwischen den beiden Wahlgängen in der Türkei war erneut ein Haftbefehl gegen Deniz Yücel ergangen. Dabei ist der „Welt“-Journalist nur eines der bekannten Gesichter der zahlreichen Journalist*innen, für die eine sichere Einreise in die Türkei durch dieses Wahlergebnis in weite Ferne gerückt ist.

Nicht auszumalen, was noch alles passieren könnte, sagte ein kurdischer Journalist in einem vertraulichen Gespräch mit M. Er schließt nicht aus, dass es eines Tages ganz verboten wird, von Protesten zu berichten. Schon jetzt können Kamerateams bei Versammlungen nicht immer ungestört arbeiten.

Neben der physischen Gewalt, die türkischen – und vor allem kurdischen – Journalist*innen in hiesigen Gefängnissen droht, verfügt der türkische Staat zudem über ein ganzes Arsenal psychischer „Folterinstrumente“. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie arbeiten 50 Stunden pro Woche, oft bis spät in die Nacht, und müssen dennoch jeden Tag um 4 Uhr morgens aufstehen. Denn Hausdurchsuchungen führt die Polizei mit Vorliebe in den frühen Morgenstunden durch. Um den Razzien und drohenden Festnahmen zu entgehen, verlassen einige Medienschaffende deshalb das Haus bereits mitten in der Nacht.

Was also kann und sollte man tun?

„Wenn Erdogan an der Macht bleibt, werde ich die Türkei verlassen“, hatten vor der Wahl einige geschworen. Ob sie das wirklich umsetzen und ob es ihnen gelingt, steht in den Sternen. Deutschland, wo Pressefreiheit und Menschenrechte, so wichtig genommen und als Bedingung etwa für EU-Beitritte gefordert werden, lässt nicht annähernd genügend Taten folgen, um diesen Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Visa-Anträge aus der Türkei werden reihenweise abgelehnt und mit einem Aufnahmeprogramm wie für Afghanistan – obgleich dieses nicht funktioniert – wird es für Menschen aus dem NATO-Mitgliedsland Türkei wohl erst recht nicht geben. Wie unattraktiv es ist, sich in einem EU-Land um Asyl zu bewerben, ist auch hier bekannt. Spricht man mit verfolgten Journalist*innen über die düsteren Aussichten im Exil, sagen manche: Ihren geliebten Job – ja ihre Berufung, den Journalismus – aufzugeben, wäre wohl vernünftiger, als in den Mühlen der europäischen Flüchtlingspolitik zu landen.

Unabhängige Presse in der Türkei noch stärker unterstützen

Wer in der Türkei bleiben und weitermachen will, muss sich warm anziehen. Eine unverzichtbare Bedingung dafür sind rechtliche Verteidigung und gute Vernetzung. Doch sogar Anwält*innen, die kritische Medienschaffende vor Gericht verteidigen, werden in der Türkei immer wieder juristisch verfolgt.

Die Zivilgesellschaft in Europa muss die unabhängige Presse in der Türkei noch stärker unterstützen als bisher. Die finanzielle Förderung für Exilmedien, wie sie der von Reporter ohne Grenzen gegründete JX Fund etwa für Medien aus Belarus bereitstellt, ist dabei ein Schlüssel. Solche Programme sollten so ausgebaut werden, dass auch die Türkei, und die am heftigsten verfolgten kurdischen Medien, davon profitieren.

Auch türkischsprachige Berichterstattung freier Medien in Deutschland wie zum Beispiel die Radiosendung „COSMO TÜRKÇE“ vom WDR sind äußerst wertvoll. Davon braucht es mehr und das bestehende Angebot sollte bei der Zielgruppe noch viel besser beworben werden. Damit sich Wahlberechtigte – spätestens vor der nächsten Wahl – seriös informieren können. Das Wasser abgraben wird man den gezielt eingesetzten Falschinformationen und der Hassrede regierungsnaher Medien – wie der Zeitung Sabah, die gerade in Deutschland Schlagzeilen gemacht hat – so zwar nicht. Aber es wäre zumindest ein Anfang.

Kritische Journalist*innen in der Türkei sollten sich außerdem zusammentun und eine – große, parteiunabhängige und professionelle – Nachrichtenagentur sowie einen Fernsehsender gründen, um Verwirrungen und anderen Probleme wie am Wahlabend künftig zu begegnen (siehe Interview in M).

Zu guter Letzt scheint die Türkei an einem Punkt in ihrer Geschichte angekommen zu sein, an dem es – einmal mehr – helfen könnte, von der kurdischen Bewegung zu lernen. Nicht hinsichtlich ihrer Ideologie oder Medienarbeit, in der es oft an Distanz und Kritik fehlt. Sondern in Bezug auf ihren zähen Widerstandsgeist, ihren kollektiven Ansatz und ihren unerschütterlichen Mut. Egal, wie blutig die Massaker in der Geschichte, egal, wie viele von ihnen eingesperrt werden, die kurdische Bewegung macht immer weiter, steht immer wieder auf. Das sind Eigenschaften, die es jetzt für alle in der Türkei braucht, die sich echte Demokratie wünschen – um der Angst und Verzweiflung etwas entgegenzusetzen.

 

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