Veysel Ok ist Anwalt für Medien- und Pressefreiheit in Istanbul. Er verteidigte unter anderem den Journalisten Deniz Yücel (heutiger Korrespondent der WeltN24-Gruppe des Axel Springer Verlags), nachdem dieser 2017 in der Türkei verhaftet wurde. Ok gründete die Nichtregierungsorganisation „Media and Law Studies Association“ (MLSA), die sich gegen Einschüchterung, Gewalt, Überwachung und Zensur im Medienbereich einsetzt und systematisch Gerichtsprozesse gegen Medienschaffende beobachtet. Mit M sprach er über das Ergebnis der Wahlen in der Türkei, die Rolle der Medien und warum der Journalismus der eigentliche Wahlverlierer ist.
M | Wie geht es Ihnen nach der Wahl von Sonntag?
Veysel Ok | Ich bin müde, aber nicht schockiert, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) vor seinem wichtigsten Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) liegt. Ich hatte nicht viel Hoffnung, dass er gewinnen würde. Überrascht hat mich, dass oppositionelle Parteien wie die bürgerlich-kemalistische CHP und die pro-kurdische, linke YSP bei der Parlamentswahl so schlecht abgeschnitten haben. Dort zieht jetzt eine Mehrheit aus hardcore nationalistischen, rassistischen und islamistischen Parteien ein.
- Rechtsanwalt Veysel Ok in Istanbul. Foto: Leonie Schmitt
Ein Oppositioneller, mit dem ich am Wahlabend sprach, wiederholte mantraartig, man habe gewonnen, niemand solle die veröffentlichten Zahlen glauben. Was glauben Sie?
Es geht hier nicht um „glauben“. Den gesamten Wahlabend über hatten oppositionsnahe Medien berichtetet, Kılıçdaroğlu habe 49 Prozent und Erdoğan nur 45. Wo waren die Belege dafür? Nach einigen Stunden hat dann selbst die CHP eingesehen, dass sie verloren hat und es eine zweite Runde geben wird.
Der Hohe Wahlrat (YSK) steht unter Einfluss des Präsidenten und die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı behauptete anfangs, Erdoğan habe 70 Prozent der Stimmen erhalten und Kılıçdaroğlu nur 30. Das klingt nicht seriöser.
Ja, am Anfang. Später sank Erdoğans Prozentzahl dort. Im Laufe des Abends näherten sich dann die Zahlen von Anadolu und einer anderen Nachrichtenagentur namens Anka Haber Ajansı immer weiter an. Die war in der Vergangenheit alles andere als Erdoğan-freundlich, im Gegenteil, es heißt, ihr Besitzer sei Mitglied der CHP. [Anm. der Red.: Seine Rolle innerhalb der Agentur ist unklar, nach der Wahl wurde er zum Austritt aus der CHP aufgefordert und für die Intransparenz kritisiert.]
Inzwischen haben alle Seiten das Ergebnis akzeptiert. Heißt das denn, dass es stimmt?
Vielleicht sind die Manipulationsvorwürfe der Opposition aus der Wahlnacht berechtigt. Nur belegt hat sie diese bislang nicht. Niemand hat Beweise auf den Tisch gelegt. Niemand. Natürlich ist Wahlbetrug möglich, gerade in kleineren Ortschaften. Dafür wurden plausible Einwände vorgetragen. Aber keine der Parteien hat bislang von einer umfassenden Wahlfälschung gesprochen. Erdoğan hat 49,4 Prozent erhalten, Kılıçdaroğlu 44,96 Prozent. Und an diesem traurigen Gesamtbild ändern auch kleinere Fälschungen nichts.
Es ist schwierig, an verlässliche Informationen zu kommen. Niemand scheint zu wissen, was wirklich stimmt und was nicht.
Ja, es ist schlimm. Weder die Presseabteilungen der Opposition noch die Medien, die ihr nahestehen, haben einen guten Job gemacht. Sie haben keine klaren Zahlen genannt, sie haben keine Verbindung zu den Menschen aufgebaut. Zum Beispiel der Fernsehsender Halk TV: Die saßen da zu viert mit ihren Smartphones im Studio und haben Beiträge von Twitter vorgelesen. Das ist doch kein Journalismus!
Eine CHP-Anhängerin ist auf einer Wahlparty, angesichts des Ergebnisses, in Tränen ausgebrochen. Sie hatte fest mit einem Erdrutschsieg Kılıçdaroğlus gerechnet. Wieso wurden viele so überrascht?
Weil sie nichts anderes hören wollten! Zum Beispiel hatte Emin Çapa, ein Journalist von Halk TV, am frühen Abend die Vorhersage gewagt, dass es zu einer Stichwahl kommen könnte. Sie glauben gar nicht, wie das oppositionelle Lager über ihn hergefallen ist. „Wie kannst du das nur sagen!“ und vieles mehr warf man ihm an den Kopf.
Da fällt mir das Sprichwort „Don’t shoot the messenger“ ein. Fehlt es hier an Medienkompetenz in der Gesellschaft?
Ja, ganz sicher. Aber es gibt noch ein Problem. Die oppositionsnahen Medien sorgen sich viel zu sehr um die Meinung der Wähler. Die Berichterstattung in der Wahlnacht war auch deshalb so katastrophal, weil diese Medien sich nicht getraut haben zu sagen, dass Kılıçdaroğlu verloren hat. Oppositionelle Journalisten haben Angst vor ihrem eigenen Publikum. Die schon erwähnte Agentur Anka schickt nicht einmal eigene Reporter los und übernimmt oft Inhalte der staatlichen Agentur.
Was ist denn mit kritischen Medien, die Verfolgung und Zensur trotzen, wie die Zeitungen BirGün und Evrensel oder dem Fernsehsender Artı TV ?
Klar, Artı TV ist super, aber die sind alle viel zu klein. Erdoğan war auf 25 Sendern gleichzeitig live zu sehen. Als Kılıçdaroğlu sprach, zeigten das immer nur ein paar kleine Sender. So haben die Menschen gar keine Chance, sich ausgewogen zu informieren.
Wie wäre es besser gelaufen?
Seit einem Jahr rede ich mir den Mund fusselig, dass die Opposition in der Türkei eine eigene Nachrichtenagentur gründen soll. Aber das hat sie nicht getan. Und das ist nicht Erdoğans Schuld. Das ist die Schuld der Opposition. Das waren doch nicht unsere ersten Wahlen! Wir alle wissen doch, wie die Anadolu Ajansı vorgeht und dass 90 Prozent aller Medien regierungsfreundlich berichten. Wir brauchen endlich unabhängig recherchierte Informationen aus einer seriösen Quelle. Die wären viel mehr wert als Inhalte, die direkt aus den Parteien kommen. In der Türkei gibt es nun wirklich genug arbeitslose Journalist*innen. Die könnten doch eine Nachrichtenagentur eröffnen. Wenigstens für einen Monat [lacht]! Die CHP hat genug Geld. Sie stellt in elf Großstädten die Bürgermeister*innen. Als zweitgrößte Partei im Land erhält sie sogar staatliche Förderung. Alles könnte so einfach sein.
Als Anwalt unterstützen Sie seit Jahren Medienschaffende, die in der Türkei verfolgt werden. Sind Sie von Ihrer eigenen Klientel enttäuscht?
Auf jeden Fall. Wissen Sie, wer diese Wahl wirklich verloren hat? Der Journalismus! Und die Nutzer*innen der Sozialen Medien. Die dachten seit einem Jahr, Erdoğan würde gehen. Von ihnen hätte Kılıçdaroğlu 70 Prozent bekommen. Das sind alles Oppositionelle. Aber die Türkei ist mehr als Twitter. In Anatolien nutzt das kein Mensch. Ich bin übrigens nicht nur von den türkischen, sondern von allen Mainstream-Medien enttäuscht. Ja, wegen der Wahl gab es weltweit viel Medienaufmerksamkeit für die Türkei, aber wer hat denn in den letzten Wochen über die mehr als hundert Verhaftungen in den kurdischen Gebieten berichtet? Fast niemand. Auch international nicht.
Haben Sie angesichts der Verfolgung der kritischen Presse auch Verständnis für Fehler? Wenn man über Themen wie Korruption oder die kurdische Frage berichtet, steht man dann nicht immer mit einem Bein im Gefängnis?
Da habe ich kein Verständnis. Wer Demokratie in der Türkei will, muss über die kurdische Frage sprechen. Man kommt auch nicht automatisch ins Gefängnis, sobald man sich mit dem Thema befasst. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Kurden sind immer als erstes dran und was sie mit denen machen, machen sie später mit den anderen. Das haben wir nach dem Putschversuch von 2016 gesehen, als plötzlich auch Mainstream-Journalist*innen, Akademiker*innen und Künstler*innen zur Zielscheibe staatlicher Verfolgung wurden. Ich verlange von niemandem, unnötige Risiken einzugehen, aber ich verlange Solidarität.
Wie frei waren die Medien denn während des Wahlkampfs?
Die Regierung hat vorab das Strafrecht verschärft und die Befugnisse der staatlichen Medienaufsichtsbehörde RTÜK ausgeweitet. Alles wird zensiert, Fernsehsender, Internet, besonders Berichte, in denen es um Korruption oder Erdoğans Familie geht. Wir zählen täglich um die 20 Sperrungen. RTÜK hat sogar unseren Bericht über Zensur zensiert! Vor der Wahl wurden mehr als 30 Journalist*innen verhaftet, mehrheitlich kurdische. Über das Erdbeben konnte nicht frei berichtet werden, hier wurde das im Oktober verabschiedete „Desinformationsgesetz“ genutzt.
In der Wahlnacht soll es zu Cyberangriffen auf Fernsehsender wie Halk TV und die Zeitung Sözcü gekommen sein. Was wissen Sie darüber?
Deren Angebote haben nach kürzester Zeit wieder funktioniert. Die einzige Zensur, die es in den letzten zwei Tagen gab, betraf Twitter. Die türkische Regierung hat verlangt, dass bestimmte Accounts, zum Beispiel des beliebten Journalisten Cevheri Güven, gesperrt werden. Dem hat Twitter sich ebenso gebeugt wie anderen Anordnungen der letzten Monate.
Twitter-Chef Elon Musk hat vor der Wahl behauptet, wenn er dieser Anordnung nicht nachkomme, drohe die türkische Regierung, die gesamte Plattform zu sperren. Was halten Sie von seiner Entscheidung?
Na und? Putin hat Twitter in Russland auch gesperrt. Wir haben alle VPN-Zugänge, um weiterhin zugreifen zu können. Natürlich fordere ich, dass Elon Musk die Meinungsfreiheit respektiert, statt vor Erdoğan zu kuschen.
Kam es am Wahltag zu physischen Angriffen auf Journalist*innen?
Nicht, dass ich wüsste. Wir hatten uns mit einem anwaltlichen Notfallteam bereitgehalten. Journalist*innen, die Probleme bekommen, konnten uns die ganze Nacht lang anrufen. Vorher hatten wir ein Info-Blatt über die Rechte von Medienschaffenden auf Englisch und Türkisch herausgegeben. Werden Medienschaffende mit Verweis auf Akkreditierungen, Sicherheit oder das Wahlgeheimnis aufgehalten, ist das eine Behinderung und stellt nach türkischem Recht eine Straftat dar.
Ein Produzent von Al Jazeera sagte mir, die Polizei habe sein Team erst in ein Wahllokal eintreten lassen, nachdem sie eine Genehmigung vorgezeigt hätten. Wie ist hier die Rechtslage?
Gemäß Artikel 82 des Gesetz Nr. 298 dürfen Pressevertreter*innen in der Nähe von Wahllokalen Bilder und Informationen generieren, sofern sie den Wahlvorgang nicht beeinträchtigen. Das gilt für inländische und ausländische Medien, unabhängig davon, ob sie eine türkische Pressekarte besitzen oder nicht.
Wer wird nun die zweite Runde der Wahl gewinnen?
Ich bin mir nicht sicher, aber Erdoğan ist stark. Er hat jetzt schon 49,4 Prozent bekommen und seine AKP ist mit mehr als 35 Prozent die stärkste Kraft im Parlament. Ich bleibe dennoch optimistisch. Sollte Kılıçdaroğlu doch noch gewinnen, hat er versprochen, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu respektieren und zahlreiche Journalist*innen aus unfairen Gerichtsverfahren und aus dem Gefängnis zu entlassen.
Was gibt Ihnen in dieser schwierigen Zeit Hoffnung?
Ich bin in den 1990er Jahren in Diyarbakir aufgewachsen [Stadt im kurdischen Südosten, Anm. d. Red.]. Meine Kindheit war geprägt von der Hisbullah [gewalttätige islamistische Organisation, Anm. d. Red.] und einer Polizei, die Leute auf der Straße angegriffen und getötet hat. Wir haben die 90er Jahre in Kurdistan überlebt, also werden wir auch die jetzige Phase überstehen.