Alle kriminell?

Proteste gegen die geplante Vorratsdatenspeicherung der Koalition

„Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.“ So lässt sich auf den Punkt bringen, was die Bundesregierung aktuell mit dem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung plant. Um Straftaten – also auch terroristische Gefahren – besser bekämpfen zu können, sollen ab dem 1. Januar 2008 sämtliche Kommunikationsdaten aller Bundesbürger für ein halbes Jahr gespeichert werden. Dieses Vorhaben stößt auf breite Ablehnung in der Bevölkerung.

Ende September demonstrierten in Berlin unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ (Foto oben) rund 15.000 Menschen gegen die Vorratsdatenspeicherung. Auch die Journalistenverbände gehören zu den Gegnern des Gesetzes. Sie befürchten einen tiefen Einschnitt in das demokratische Grundrecht der Pressefreiheit. „Wir lehnen diese generelle Überwachung und Speicherung ab, weil diese Daten beispielsweise für Ermittlungen wegen Geheimnisverrats gegen Journalisten benutzt werden können. Wir mussten in letzter Zeit mehrmals die Erfahrung machen, dass Durchsuchungen bei Journalisten und in Redaktionen, dass die Verletzung des Redaktionsgeheimnisses und des Zeugnisverweigerungsrechts von Journalisten leichtfertig als Vehikel zur Erleichterung der Arbeit von Polizei und Staatsanwälten genutzt werden sollten“, so dju-Bundesgeschäftsführerin Ulrike Maercks-Franzen bei der Kundgebung vor dem Brandenburger Tor. „ver.di fordert von der Bundesregierung einen sofortigen Verzicht auf neue Gesetzesvorhaben im Bereich der inneren Sicherheit, wenn sie mit weiteren Grundrechtseingriffen verbunden sind.“ ver.di wende sich nachdrücklich gegen die Vorratsspeicherung des Telekommunikationsverhaltens der gesamten Bevölkerung, gegen verdeckte Online-Durchsuchungen von Computern sowie die Personenkennzeichnung durch die einheitliche Steuer-Identifikationsnummer.

Wer, wann, wie lange mit wem?

„Mit der Vorratsdatenspeicherung wird gespeichert, wer wann wie lange mit wem kommuniziert hat. Beim Handy noch zusätzlich, wo er sich dabei aufgehalten hat und zwar von Millionen Bundesbürgern. Das ist der Punkt, wo wir sagen, das ist unverhältnismäßig. Sind wir denn alle kriminell“, fragt Ricardo Cristof Remmert-Fontes vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der seit fast zwei Jahren den Protest gegen die Pläne der Bundesregierung sammelt. Mehr als 50 Organisationen sind inzwischen im Boot, um die Vorratsdatenspeicherung vielleicht doch noch abwenden zu können.
Mit dem Gesetz setzt die Bundesregierung eine EU-Richtlinie in nationales Recht um. Das Ziel besteht darin, die Kommunikationsnetzwerke von Kriminellen offen zu legen – um den Preis, dass jeder Bürger das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verliert, wie die FDP-Politikerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger auf einer Fachtagung zur Vorratsdatenspeicherung am 17. September im Haus der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin kritisierte. Ein Kernpunkt dieser Selbstbestimmung sei, „dass nicht grundlos personenbezogene Daten erfasst werden dürfen. Das passiere jedoch mit der geplanten Vorratsspeicherung.

Keine Anonymität mehr

Einen besonderen Einschnitt würde das Gesetz für die Medien bringen. Investigative Recherchen wären dann nahezu unmöglich, da man potentiellen Quellen keine Anonymität mehr zusichern könnte. Gerät ein Journalist in ein Ermittlungsverfahren, würden seine gesamten Verbindungsdaten – ob per Telefon oder Mail – offen gelegt werden. „Dann werden die Ermittler unter Umständen feststellen, dass ich drei Anrufe von einem Abteilungsleiter im BKA gehabt habe und drei Anrufe von einem Abteilungsleiter in einem anderen Amt. Keiner weiß, ob der Beamte mir ein Geheimnis verraten hat.“ Aber der Kontakt den ich eigentlich mit einem Pressesprecher haben sollte, sei erkennbar, beschreibt Stephan Wels, Leiter der ARD-Sendung „Panorama“ das Szenario. Die Gefahr, dass Informanten zur Rechenschaft gezogen werden, auch wenn sie mit dem ermittelten Fall nichts zu tun haben, dürfte so groß sein, dass sie sich perspektivisch zurückziehen.
Der Journalist Detlef Drewes, der seit 2004 in Brüssel als Korrespondent für verschiedene deutsche Zeitungen arbeitet, hat diese Erfahrung schon gemacht, denn in Belgien gilt bereits die Vorratsdatenspeicherung. Drewes recherchierte dort zu Themen wie Kinderpornographie und Rechtsextremismus – eine investigative Arbeit, die er heute nicht mehr machen kann. „Ich habe, seitdem ich in Brüssel arbeite, mehrere Informanten in der rechtsextremistischen Partei in Flandern gehabt“, sagt Drewes. „Einer dieser Informanten hat mich regelmäßig über alle Querverbindungen zu rechtsextremistischen Parteien in Deutschland versorgt, was zu einer Reihe von enthüllenden Artikeln geführt hat. Als ich kürzlich mal wieder mit diesem Menschen Kontakt aufnehmen wollte, hat er mich angewiesen, ihn nie wieder anzurufen. Seitdem die Vorratsdatenspeicherung in Kraft sei, würde er mir keine weiteren Informationen mehr geben.“

Keine Vertraulichkeit

Tiefgehende Konsequenzen dürfte die Vorratsdatenspeicherung jedoch auch für Berufsgruppen wie Ärzte und Pfarrer oder für solche Nothilfeeinrichtungen haben, an die sich Menschen anonym wenden. Auch hier kann keine Vertraulichkeit mehr sichergestellt werden. „Wenn ich mir vorstelle, dass allein beim Kinderschutzzentrum in Ulm pro Jahr etwa 400 Fälle von sexueller innerfamiliärer Gewalt gemeldet werden, die niemals zur Polizei kommen“, so Drewes, „und wenn ich mich dann frage, wie das mit der Vorratsdatenspeicherung sein wird, die keine Ausnahmen für solche Beratungszentren vorsieht, dann wird mir ziemlich übel. Das geplante Gesetz schlägt eine breite Schneise in alles das, was wir an sozialem Hilfenetz aufgebaut haben.“

Verfassungsbeschwerde gegen Vorratsdatenspeicherung

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung bereitet eine Verfassungsbeschwerde gegen die von CDU/CSU und SPD geplante Protokollierung der Telefon-, Handy-, E-Mail- und Internetnutzung. Mehr als 5000 schriftliche Vollmachten liegen den Anwälten bereits vor, Zehntausende unterstützen den Aufruf zu dieser Klage mit ihrer Unterschrift. Sie wird sofort nach Erlass des Gesetzes eingereicht.
www.vorratsdatenspeicherung.de

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Von Erbsensuppe und neuen Geschichten

„Vielfalt schützen, Freiheit sichern – 40 Jahre duale Medienordnung im föderalen Deutschland“. Dies war das Thema des Symposiums, das am 23.  April in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Ausrichter war die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM).  Teilnehmer waren Verantwortliche aus Medienpolitik und -wissenschaft, Rundfunkregulierung und Medienunternehmen.
mehr »

Unabhängige Medien in Gefahr

Beim ver.di-Medientag Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen diskutierten am 20. April rund 50 Teilnehmende im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig die aktuelle Entwicklungen in der Medienlandschaft, die Diversität in den Medien und Angriffe auf Medienschaffende. Das alles auch vor dem Hintergrund, dass bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die AfD laut Umfragen stark profitiert. 
mehr »

ARD-Krimis werden barrierefrei

Untertitelung, Audiodeskription, Gebärdensprache – das sind die so genannten barrierefreien Angebote, die gehörlosen oder extrem schwerhörige Fernsehzuschauer*innen gemacht werden. Die ARD sendet fast alle neu produzierten Folgen ihrer Krimireihen „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ auch mit Gebärdensprache. Beide Reihen seien „die ersten und aktuell die einzigen regelmäßigen fiktionalen Angebote mit Gebärdensprache in der deutschen Fernsehlandschaft“, erklärte die ARD.
mehr »

Top Tarifergebnis im Kino

In den Tarifverhandlungen mit der Kino-Kette UCI (United Cinemas International GmbH) wurde am 19. Februar 2024 ein Tarifergebnis erzielt, das an vielen Stellen die ver.di-Forderungen erreicht, so auch den Einstiegslohn von 14 Euro. In der anschließenden Befragung der Mitglieder bis zum 4. März gab es keinerlei Ablehnung. Somit beschloss auch die ver.di-Tarifkommission einstimmig die Annahme des Tarifergebnisses.
mehr »