„Gedopte Realität“ in Doku-Soaps verändert Publikumsgeschmack
Mit pseudodokumentarischen TV-Formaten erreichen Privatsender neuerdings beachtliche Quoten. Beim öffentlich-rechtlichen NDR erwägt man offenbar die Entwicklung einer „Light-Version“ solcher Programme. Die AG Dokumentarfilm schlägt Alarm.
Eine Familie hat im Lotto 800.000 Euro gewonnen, der missratene Sohn will aber nichts abgeben. Er beschimpft seine Eltern, der Vater ist ratlos, die Mutter weint. Eine typische Szenenfolge aus der Doku-Soap „Familien im Brennpunkt“, mit der der Privatsender RTL in seinem Nachmittagsprogramm ab 16 Uhr regelmäßig Marktanteile von 25 Prozent und mehr erzielt.
Was bei SAT 1 die berüchtigten Gerichtsshows, sind bei RTL pseudodokumentarische Formate à la „Mitten im Leben“, „Die Schulermittler“ und „Verdachtsfälle“. Oder eben auch „Familien im Brennpunkt“. Vorgeführt wird eine Parallelwelt, bevölkert von schlagenden Vätern, betrunkenen Müttern und schwangeren Teenies. In der Regel gemimt von Laien, seltener von professionellen Darstellern, nach Drehbüchern, die voll auf Krawall gebürstet sind.
SWR-Spielfilmchef Carl Bergengruen, designierter künftiger Geschäftsführer von Studio Hamburg, fürchtet Auswirkungen auf die Programme von ARD und ZDF. „Diese Formate, die den Voyeurismus so total bedienen und so zuspitzen, verändern den Publikumsgeschmack“, warnt er. Das sei auch der Grund, warum die Öffentlich-Rechtlichen da nicht mitmachten. Denn „mit Gebührengeldern können und dürfen sie so etwas nicht finanzieren“.
Im Mittelalter gab es die öffentlichen Hinrichtungen, heute übernehmen die Schreiopern der Privatsender diesen Part. Für Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Uni Tübingen liefern die neuen Doku-Soaps der Privaten eine Art heimlichen Lehrplan, wie man am besten in die Medien komme (siehe Interview). Denn dem Voyeurismus des Publikums entspreche ein mindestens ebenso ausgeprägter Exhibitionismus auf Seiten der TV-Darsteller. Bei dieser Form von „scripted reality“ handle es sich letztlich um eine Art Sozialporno, also die Verengung auf einige wenige Schlüsselreize wie Sexualität, Primitivität und Absonderliches. Aber, so räumt er ein, selbst die Privatsender kämen nicht ohne „scheinaufklärerische Unterzeile“ aus. Das deute immerhin auf die Existenz eines moralischen Restgewissens hin.
Auch NDR-Programmdirektor Frank Beckmann findet diesen jüngsten Trend der TV-Unterhaltung bedenklich. Es gebe eine programmliche „Abwärtsspirale“, einen Run auf „immer mehr Thrill und noch mehr Abgrund“ in solchen Formaten, kritisierte er unlängst in Berlin bei einer Debatte des „MainzerMedienDisputs“. Und wenn man das in der Realität nicht mehr finde, missbrauche man das Etikett Doku, um die Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit grotesk zu manipulieren.
Umso fragwürdiger, dass es bei den öffentlich-rechtlichen Sendern Überlegungen gibt, „scripted reality“ ebenfalls zu testen, wenn auch in moderater Form. Die Programmverantwortlichen reizt neben den vergleichsweise niedrigen Produktionskosten vor allem die gute Quote, die die Privaten damit im Nachmittagsprogramm erzielen. In einem NDR-internen Papier unter dem Titel „Scripted Reality – eine Chance für den NDR?“ heißt es, die fiktionale Erzählweise im Doku-Stil sei „ein dramaturgisches Mittel, das in Zukunft an Bedeutung gewinnen könnte, da es spannende Geschichten zu einem relativ kleinen Budget liefert“. Und: „In einer Übersetzung für die Sehgewohnheiten der Zuschauer könnte diese Erzählweise auch im öffentlich-rechtlichen Umfeld funktionieren.“
Die AG Dokumentarfilm beobachtet diese Entwicklung mit Argwohn. In einer Presseerklärung der AG DOK unter dem Titel „NDR will RTL-Niveau erreichen“ wird davor gewarnt, die Wirklichkeit mit Pseudo-Dokus zu verbiegen. „Imitate wie Glibber-Schinken und Analog-Käse täuschen die Verbraucher ebenso wie gespieltes Anwalts- oder Polizistenleben“, kommentierte AG DOK-Vorsitzender Thomas Frickel das NDR-Positionspapier. Wenn das Publikum an billige Pseudo-Dokus gewöhnt wird, könne „die beobachtete und recherchierte Wirklichkeit auf der Strecke bleiben“. In diesem Zusammenhang verurteilt die AG Überlegungen, „die Montags-Dokumentation im ARD-Hauptprogramm einer weiteren Talkshow zu opfern“. Der „overkill“ an Talk-Formaten führe „zur weiteren Verarmung der Programmvielfalt, weil er gründliche Recherche, präzise Umsetzung und dokumentarische Sorgfalt auf dem Altar der Eitelkeiten von Talk-Mastern und ihrer ewig gleichen Gästen opfert“. Die AG fordert daher die ARD-Intendanten auf, diesen Plänen eine Absage zu erteilen. Stattdessen wünscht sie sich ein deutliches Bekenntnis zum Erhalt des Dokumentarfilms und der dokumentarischen Formate.
Gleichwohl hält der NDR an seinen Plänen fest, mit „scripted reality“ zu experimentieren. Man könne von solchen Formaten durchaus lernen, beharrte NDR-Programmchef Beckmann (Bild) in der erwähnten Diskussion in Berlin. „Wir gucken uns an, was ist bei diesen Formaten möglich, wie viel Impuls können wir geben, und ab welchem Zeitpunkt ist es für uns ein Format, was wir nicht mehr anfassen würden“, sagte er.
Laut NDR-Papier sollen mit den führenden Produzenten des Genres (Norddeich-TV, Filmpool und Stampfwerk) zunächst Storylines und Drehbücher sowie einige Pilotprojekte entwickelt werden. „Im Idealfall“ werde am Ende „eine für das öffentlich-rechtliche Fernsehen überwiegend neue Form des fiktionalen Erzählens“ gefunden. Umgekehrt könne am Ende aber auch die Erkenntnis stehen, dass dieses Genre „nicht zum Profil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks passt“.
Für die AG DOK ist diese Frage bereits entschieden. „Scripted Reality“ wäre „ein weiterer Schritt zur Boulevardisierung öffentlich-rechtlicher Programme und eine Abkehr vom eigentlichen Programmauftrag“.