Gerd Nies, Jurist und ehemaliges Bundesvorstandsmitglied von ver.di, zu verfassungsrechtlich unzulässigen Eingriffen in die Rundfunkfreiheit
«M»: ver.di hat den jüngsten Gebührenentscheid der Ministerpräsidenten als „massiven Eingriff in die Rundfunkfreiheit“ kritisiert. Warum?
GERD NIES: Offensichtlich gibt es den Versuch der Politik, oder Teilen davon, aber in allen politischen Lagern, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu schwächen. Die Öffentlich-Rechtlichen sind manchen zu unabhängig, zu selbstbewusst geworden. So gab es Stimmen im Umfeld von Stoiber, die die Schuld an der Wahlniederlage bei der letzten Bundestagswahl der Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen zugeschoben haben. Zugleich gibt es auch eine klare Tendenz der unmittelbar interessierten Ministerpräsidenten Standortpolitik zu Gunsten der Privaten zu machen.
«M»: Wo sieht ver.di verfassungsrechtliche Probleme?
GERD NIES: Der Staatsvertrag beschneidet den öffentlichen Rundfunk. Die Gebührenerhöhung auf vier Jahre gerechnet liegt unter der allgemeinen Teuerung und unter der Entwicklung der öffentlichen Haushalte. Real ist es keine Erhöhung, sondern eine Kürzung. Und die programmlichen Vorgaben schränken die Entwicklungsmöglichkeiten ein. Das ist nicht nur eine Verletzung des Gebührenverfahrens, sondern ein Eingriff in die Programmhoheit. Das alles ist verfassungsrechtlich meines Erachtens eindeutig unzulässig.
«M»: Sollen ARD und ZDF dagegen Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen?
GERD NIES: Da bin ich dennoch zurückhaltend. Zunächst mal ist abzuwarten, ob der Gebührenstaatsvertrag überall verabschiedet wird. Der Gang nach Karlsruhe wird keine höheren Gebühren bringen. Es ist eine Abwägung, was sind die Hauptfragen für die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die eine betrifft sicher die Zukunft der Gebührenfestsetzung. Da wird sich etwas ändern müssen, weil das bisherige Verfahren unwiderruflich beschädigt ist. Die andere Frage betrifft die Strukturdiskussion. Da sehe ich die größeren Herausforderungen.
«M»: Gibt es Alternativen zur bisherigen Praxis der Gebührenfestsetzung durch die KEF?
GERD NIES: Das ist schwer. Ich sehe politisch keinen Ansatz dafür, dass etwa eine Dynamisierung der Gebühr eine Chance hat. Ich denke aber, man wird ein neues Verfahren finden müssen unter Einschaltung der KEF, in dem einerseits die Politik in einer langjährigen Perspektive die rundfunkpolitischen Eckdaten setzt und in dem die KEF möglicherweise sogar in jährlicher Anpassung in kleineren Schritten den jeweiligen Bedarf festlegt. Eine Art Mittelweg zwischen einer Dynamisierung bzw. Indizierung der Gebühr und der bisherigen Methode.
«M»: ARD und ZDF drohen auch Gefahren von der europäischen Kommission. Angriffsziel sind die Online-Aktivitäten und die Rundfunkgebühren selbst, die die EU als unerlaubt staatliche Beihilfen geißelt. Was ist davon zu halten?
GERD NIES: Mittelfristig birgt die europäische Entwicklung eine große Gefahr. Wir müssen ja sehen, dass in den meisten Ländern Europas der öffentliche Rundfunk ein Staatsfunk und kein unabhängiger Rundfunk wie hierzulande ist. Wir haben in Europa nicht viele Verbündete für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach unserem Modell. Es gibt nirgends einen so starken und im Kern gesunden öffentlich-rechtlichen Rundfunk, außer vielleicht in England. Andererseits sehen wir gerade im Ausland – Italien und manche der neuen EU-Mitgliedsstaaten sind hier als negative Beispiele zu nennen – wie wichtig ein unabhängiger Rundfunk für eine demokratische Gesellschaft ist. Das Verständnis in der EU-Kommission dafür ist jedoch gering.
«M»: Welchen Handlungsspielraum haben die Verteidiger des deutschen Systems?
GERD NIES: Die Öffentlich-Rechtlichen und ihre Verbündeten werden für diese Sache in Strassburg und Brüssel deutlicher um Verständnis werben müssen – und von der Politik erwarte ich, dass sie klare Grenzen zieht, auch gegenüber der Kommission. Das Bundesverfassungsgericht hat erst jüngst wieder deutlich gemacht, dass deutsches Verfassungsrecht – und darum geht es bei der Rundfunkfreiheit – nicht einfach zur Disposition europäischer Entscheidungen steht.
«M»: NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück meinte unlängst, ARD und ZDF müssten durch „Konzentration auf ihren Kern“ zukunftsfähig gemacht werden…
GERD NIES: Das ist wieder der beschränkte Blick der Standortpolitik. Letztlich wird die Standort-, beschäftigungspolitische und wirtschaftliche Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sträflich unterschätzt. Konzentration auf den Kern läuft dabei auf einen Nischenrundfunk hinaus. Die Ergänzung der Privaten durch ein paar Nischenprogramme kann kein Zukunftskonzept für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sein. Mit der fortschreitenden Digitalisierung (und damit Mehrung) der Programme ist es ein notwendiger Weg, dass es eine Vielfalt von Angeboten auch aus dem öffentlich-rechtlichen Bereich gibt. Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen unterschiedlichen Angeboten die Mehrheit der Bürger nicht mehr erreichen kann, wird er keine Zukunft haben.
«M»: Wo müsste eine sinnvolle Strukturreform von ARD und ZDF ansetzen?
NIES Ich halte in der Zukunft eine verstärkte Debatte über Programme und Programmschwerpunkte für unvermeidlich. Dazu gehört auch eine Kosten-Nutzen-Debatte. Programme sind unterschiedlich teuer. Man muss fragen, wie weit sie passen, wie notwendig und vertretbar sind sie im öffentlich-rechtlichen Angebot. Das wird eine sehr schwierige Diskussion, bei der es kaum die eine große, klare Linie geben dürfte. Da ist viel Kleinarbeit zu leisten, um herauszubekommen, was verändert werden kann, was bleiben muss. Klar ist: Information und der gesellschaftliche Diskurs müssen ein Schwerpunkt bleiben. Und die Frage nach der Qualität ist nicht nur eine Frage der Inhalte, sondern auch der handwerklichen, der sinnlichen, im besten Fall künstlerischen Qualität. Hier liegen Stärken, die gepflegt und weiterentwickelt werden müssen – und die Konsequenzen bis in die Strukturen der Rundfunksanstalten haben. Zum anderen wird die digitalisierte Rundfunkwelt den Bürger mit einer ungeheuren Programmvielfalt konfrontieren.Hier müssen sich die Öffentlich-Rechtlichen positionieren.
Interview: Günter Herkel