„Dass Sie sich nicht schämen!“

Leserschelte für zitierte Äußerung von Däubler-Gmelin im „Schwäbischen Tagblatt“

Im September 2002 schrieb sich eine Lokalzeitung mit wenigen Sätzen in die Schlagzeilen der Weltpresse. Ohne es so recht zu wollen, sorgte das in Tübingen erscheinende „Schwäbische Tagblatt“ für spürbare Erschütterungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis – und für den Abgang einer SPD-Ministerin, mit der das linksliberale Blatt erklärtermaßen sympathisierte. Eine Untersuchung der Leserreaktionen, förderte Interessantes zutage.

„Bush will von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken. Das ist eine beliebte Methode. Das hat auch Hitler schon gemacht“, sagte die damalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin am 18. September bei einem Wahlkampftermin nahe Tübingen vor rund 30 Gewerkschaftern. So jedenfalls war es am nächsten Tag im Tagblatt zu lesen, Däubler-Gmelin bestreitet diesen Wortlaut bis heute. Als sicher gilt indes: Die Ministerin benutzte das Wort „Hitler“ (wahlweise „Adolf“ oder „Adolf Nazi“) – und zwar im Zusammenhang mit der Irak-Politik der US-Regierung. Das bestätigten mehrere Veranstaltungsteilnehmer. Auch Däubler-Gmelin gab zu, dass sie keine Personen, wohl aber Methoden verglichen habe. Über 600 Briefe, Faxe und vor allem E-Mails – von innerhalb und außerhalb des Verbreitungsgebiets – überschwemmten in den darauffolgenden Tagen die Tübinger Redaktion, in knapp der Hälfte wurde das Tagblatt teils mit harschen Worten für die Veröffentlichung kritisiert: „Dass Sie sich nicht schämen!“.

Abonnement gekündigt

Vor allem große Teile des Tagblatt-Publikums nahmen ihrer Zeitung die Veröffentlichung übel, rund 30 Leser kündigten mit Bezug auf den Artikel ihr Abonnement. Die heftigen Publikumsreaktionen werfen einmal mehr die Frage auf: Wie groß ist das Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der Leser und den Ansprüchen der Journalisten an das eigene professionelle Handeln?

Die Tagblatt-Redakteure jedenfalls durchlebten Stunden und Tage voll Zerrissenheit und heftiger Diskussionen: Auf der einen Seite professionelle Standards wie Pflicht zur Wahrheit, Objektivität, Unabhängigkeit der Presse. Auf der anderen Seite war man sich in der Tübinger Redaktion sehr wohl bewusst, welche Auswirkungen eine Veröffentlichung haben könnte – sowohl für das Tagblatt, wie auch für die, so Herausgeber Christoph Müller, „von uns geschätzte“ Ministerin. „Das kostet sie ihren Kopf“, soll ein Journalist während der Konferenz ausgerufen haben, auf der Tagblatt-Redakteur Michael Hahn die von ihm protokollierten Worte der Ministerin erstmals kund tat. Neben grundsätzlichen („Das können wir doch nicht verschweigen.“) und taktischen Fragen („Was machen wir, wenn das andere Zeitungen bringen?“), spielte für den sich bekennenden Linksliberalen Müller auch das besondere Verhältnis – mehr noch als die erklärte politische Nähe – zu Däubler-Gmelin eine wichtige Rolle: „Ich habe daran sehr zu knabbern, dass ich ausgerechnet jemanden, den ich seit über 30 Jahren gut kenne … Mich bewegt und berührt das sehr.“ Hinzu kommt laut Hahn: „Einen direkten Draht nach Berlin, das hat nicht jede Lokalzeitung. Man hat einen Preis bezahlt an Nähe zur Macht.“ Dennoch entschied man sich letztlich dafür, den Artikel zu bringen.

Nur wenige fanden Lob

Das „Schwäbische Tagblatt“ ist weithin bekannt für die Diskussionsfreudigkeit seines Publikums. „Das ist mein Vermächtnis“, so Müller. „Ein Blatt mit lokaler Monopolstellung muss Lesermeinungen vor allem von Andersdenkenden ungehindert zu Wort kommen lassen.“ Mit 2.115 Zuschriften tobten sich die Tagblatt-Leser 2002 auf der Leserbriefseite, dem „Sprachrohr des Bürgers“, aus. Mit Abstand am heftigsten, nämlich 150 mal, diskutierte das Publikum über den ‚Fall Herta Däubler-Gmelin‘.

Eine Auswertung der Zuschriften im Rahmen einer Journalistik-Diplomarbeit an der Universität Hohenheim ergab: Lediglich 34 der insgesamt 150 veröffentlichten Briefe lobten das Tagblatt für den Artikel, die Mehrheit (67) aber war erbost über die Entscheidung der Zeitung.

Untersucht wurden nicht nur die veröffentlichten, sondern alle 610 Zuschriften an das „Schwäbische Tagblatt“ zwischen September 2002 und Januar 2003: Gegen das Tagblatt richteten sich davon 285 (Leser)Briefe. Lob bekam das Tagblatt insgesamt 157 Mal. Kritik an Däubler-Gmelin übten 89 Schreiber. Die Positionen der damaligen Justizministerin unterstützten 46 Personen. 33 Zusendungen waren keiner dieser Kategorien zuzuordnen.

Auffällig war: Knapp die Hälfte der Zusendungen (291) stammte von außerhalb des Verbreitungsgebiets. Lediglich 187 waren Leserbriefe im klassischen Sinne, kamen also aus der Region um Tübingen. Auf 132, meist Tagblatt-kritischen, Zuschriften fand sich kein Absender. Interessant ist auch das Verhältnis von Lob und Kritik bei Zuschriften von innerhalb und außerhalb des Verbreitungsgebiets: Das Publikum (innerhalb) kritisierte das Tagblatt 106 mal, Zustimmung signalisierten hingegen nur 30 Leser. 87 Zuschriften von außerhalb des Verbreitungsgebiets sprachen sich gegen, aber 109 für die Veröffentlichung aus.

Unlautere Motive

Während die Tagblatt-Befürworter (157) meist ähnliche Argumentationsmuster benutzten (Lob und Dank für den Mut zur Veröffentlichung, Pressefreiheit ist wichtiger als ein Ministersessel), wurden die 285 Zusendungen der Tagblatt-Kritiker nochmals einer Feinauswertung unterzogen. Da in vielen Zusendungen mehrere Argumente genannt wurden, übertrifft die Gesamtzahl der erfassten Nennungen (382) die der Zusendungen.

1. Keine Folgenabwägung: Mit 97 Nennungen wurde am häufigsten kritisiert, dass das Tagblatt der Ministerin, Rot-Grün, der Region oder dem Ansehen Deutschlands in der Welt geschadet habe. Ein Schreiber bilanzierte stellvertretend für viele: „In meinen Augen haben Sie die Pressefreiheit vor Ihre persönliche Verantwortung gesetzt.“ Immer wieder tauchte das Argument auf, man müsse doch „nicht alles drucken, was man weiß“, auch Journalisten müssten sich „über die Konsequenzen ihres Tuns“ im Klaren sein.

2. Unlautere Motive: In 89 Zusendungen wurde unterstellt, das Tagblatt wolle in erster Linie seine Bekanntheit bzw. seine Auflage steigern, eine Provinzzeitung wolle endlich mal „große Politik“ machen, die Redakteure seien profilierungssüchtig und eitel. „Ein Provinzjournalist“, meinten etliche, habe „die Chance seines Lebens gewittert“. Dem Tagblatt, schrieb ein Leser für viele, sei „jedes Mittel recht, um die allerorten zu beobachtenden Nöte der Zeitungsbranche zu kompensieren und durch (fingierte) Skandalmeldungen oder Sensationsberichte hohe Auflagen herauszuschinden“.

3. Allgemeine Medienkritik: 87 Schreiber meinten, das Tagblatt („die Presse“) verstoße gegen Regeln der journalistischen Ethik, habe zu viel Macht („Wer kontrolliert eigentlich die 4. Gewalt?“) und / oder habe unprofessionell gehandelt. In vielen Zuschriften wurden generelles Misstrauen und Enttäuschung über die „Effekthascherei in den Medien“ artikuliert. Mit der Frage „Ist dies noch Journalismus oder gezielte Hetzjagd?“, drückte ein Schreiber ein häufig genanntes (Vor)Urteil über die Funktionsweise der Medien aus: Im Land herrsche eine regelrechte „Medienhysterie“, Journalisten galten nicht wenigen als gnadenlose Jäger ohne „Ehrgefühl“ auf der „gierigen Suche nach Skandalen“. Für die meisten Vertreter dieser Zunft sei „Herz ein Fremdwort“.

4. Wahlbeeinflussung: 63 mal wurde bemängelt, das Tagblatt betreibe Wahlkampf zugunsten von Stoiber bzw. der CDU / CSU. „Ihr betreibt den schmutzigsten Wahlkampf in der Geschichte der BRD“, hieß es in einer Zuschrift, ein anderer formulierte es so: „Der klassische Dolchstoß. Die Gefährdung des rot-grünen Reformprojektes.“

5. Sonstiges: In den übrigen Nennungen (46) fand sich überwiegend Schmähkritik: Dabei war „Schäbiges Tagblatt“ noch eine der ’netteren‘ Formulierungen, im ‚Mittelfeld‘ fanden sich Attacken wie „allerdümmste Schmierfinke“ oder „Scheiß CDU-Blatt“. Weit unter der Gürtellinie lagen (meist anonyme) Beschimpfungen wie „Schweinejournalismus“, „Vaterlandsverräter“, „rechte Wichser“, „Judenbengel“ oder „Brunnenvergifter“. Hin und wieder wurde auch gedroht: „Rübe ab“.

Positives Bild vom Publikum

Journalisten manipulieren, unterschlagen und bauschen auf – das scheint ein gängiges (Vor)Urteil des Publikums zu sein, wie auch der hier untersuchte Fall erneut zeigt. Warum das so ist, darüber dürfte mangels einschlägiger Studien eigentlich nur spekuliert werden. Weiterhelfen könnte aber die Beschäftigung mit der Frage: Was wissen Publikum und Journalisten eigentlich voneinander?

Studien bescheinigen den Medienprofis ein ziemlich positives Bild vom Publikum und dessen Rezeptionsverhalten. „Von Arroganz oder gar Missachtung zeigt sich keine Spur – Aufgeschlossenheit und Beachtung dominieren die Haltung der befragten Journalisten“, konstatierte etwa Hohlfeld (2000). Wenig bekannt ist hingegen, was das Publikum über (Lokal)Journalisten oder gar über das System Journalismus denkt. Allerdings existieren Hinweise: „Seit empirische Untersuchungen des Sozialprestiges von Berufen vorliegen“, bilanzierte Ronneberger 1988, „rangieren Journalisten nicht eben hoch“. Bei einer Emnid-Studie waren Zeitungsjournalisten kurz zuvor auf Platz 19 einer Skala von 25 Berufen gelandet. „Wenn ein deutscher Journalist einmal Sehnsucht hat nach dem wirklich sicheren Beifall seines Publikums, dann erklärt er am besten den Leuten, wie verkommen sein Berufsstand ist, wenigstens in weiten Teilen. Na ja, sagen dann die Leser und Zuschauer, wenigstens sieht er es selber ein“, so die sarkastische Einlassung des Publizisten Riehl-Heyse.

Reflex von Machtlosigkeit

Generell scheint das Publikum nicht sehr viel über ‚den‘ (Lokal)Journalismus, seine Akteure und Funktionsweisen zu wissen. Und wo Unwissenheit ist, da gedeihen Gerüchte und Vorurteile. Henkel (2002) spricht denn auch von einem „alten Dilemma“: „Ausgerechnet jene gesellschaftliche Institution, die für Transparenz sorgen soll, ist für Außenstehende ein Muster an Intransparenz.“ Tagblatt-Chef Christoph Müller sieht im Protest der Leserinnen und Leser „den Reflex von Machtlosigkeit, die mit ihrer Empörung nun auch einmal ein Zeichen setzen will“. Und ist denn wirklich so gar nichts dran an all den Unterstellungen der Leser? Ist es wirklich reine Einbildung, wenn „die Medien“ (hier unterscheidet das Publikum allerdings zu wenig zwischen Lokalzeitungen und Privat-TV) oft als sensations- und schlagzeilenhungrig beschrieben werden, immer auf der Jagd nach Auflage und Quote?

 

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