Auf Vorrat speichern trotz Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Auch in diesem Jahr wurde wieder im September in Berlin unter der Losung „Freiheit statt Angst“ für Datenschutz und gegen Vorratsdatenspeicherung demonstriert. Und wie schon in den vergangenen Jahren waren auf dieser fünften Kundgebung ver.di und die dju wieder dabei. Denn: Datenschutz ist ein Bestandteil der Pressefreiheit, oder andersherum: Vorratsdatenspeicherung gefährdet die Pressefreiheit.
Im März vergangenen Jahres hatte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt, vor allem die lange Speicherung von Verbindungsdaten gerügt und vor einem „diffus bedrohlichen Gefühl des Beobachtetseins“ gewarnt. Dennoch speichern auch heute noch die meisten Telekommunikationsanbieter bis zu sechs Monate die Daten. Es sind die fünf Schnüffel-Ws: Wer, Wann, Wo, mit Wem und Wie lange telefoniert. In einem bislang geheimen „Leitfaden zum Datenzugriff“ der Generalstaatsanwaltschaft München vom Juni 2011 („VS – Nur für den Dienstgebrauch“), der im Netz unter www.filetolink.com/19fbd212 seit einigen Wochen zu finden ist, werden nicht nur in einer Übersicht die gängigen Speicherzeiten der Anbieter aufgelistet, „Literatur und nützliche Links“ angeboten, auf die „gesetzlichen Grundlagen“ eingegangen, sondern auch „Tipps für die Praxis“ gegeben.
Eine Praxis, in der Journalismus an den Rand geschoben wird, in der Pressefreiheit nichts mehr gilt und von einem Informantenschutz überhaupt nicht die Rede sein kann. Datenspeicherung lässt für Journalisten die Quelle versiegen, macht eine vertrauliche Recherche nahezu unmöglich – zumindest wenn zum Telefon gegriffen, oder eine Anfrage per Fax oder Mail gestellt wird. Schon vor drei Jahren, im Oktober 2008, warnte die dju in einem Flugblatt: „Hintergrundgespräche, Kontaktaufnahmen oder Verabredungen mit Informanten sind über Telefon oder Handy, per E-Mail oder Fax praktisch nicht mehr möglich. Sollte nach einer Veröffentlichung wegen des Verdachts des Geheimnisverrats ermittelt werden, kann auf alle TK-Daten zurückgegriffen werden. Von einem Informanten- und Quellenschutz kann keine Rede mehr sein. Eine vertrauliche Kontaktaufnahme ist so gut wie ausgeschlossen. Bürgerrechte, Datenschutz und die Pressefreiheit werden in ihren grundlegenden Bestandteilen aufgehoben.“
Verbindungsdaten missbraucht
Eine Praxis, die sich auch vorzüglich zur Ausforschung misslieber Journalisten und ihrer Kontakte missbrauchen lässt. Im Mai 2008 musste die Telekom eingestehen, dass es mehr als ein Jahr lang „Fälle von missbräuchlicher Nutzung von Verbindungsdaten“ gegeben habe. Es ging um die „Aufdeckung“ von Kontakten, die Manager und Aufsichträte zu Journalisten gehabt haben sollen. Gezielt wurden die Verbindungsdaten, auch von Gewerkschaftern, abgeglichen.
Und auch das ist mittlerweile Praxis in Deutschland: „Handygate“. Anlässlich einer Demonstration von und gegen Neonazis in Dresden hatte die dortige Polizei im vergangenen Februar rund eine Million Handydaten erfasst. Darunter auch von zahlreichen Journalisten und Politikern. Die taz, die den Skandal aufdeckte, war damals mit acht Journalisten in Dresden: „Großflächig wurde gespeichert, wer wann mit wem wie lange telefonierte. Der Inhalt der Gespräche wurde nicht erfasst. Die Polizei begründete die Überwachung mit gewalttätigen Ausschreitungen und mit Ermittlungen gegen eine angebliche kriminelle Vereinigung im linken Milieu.“
Ein sofortiges Auskunftsbegehren der taz-Journalisten, welche Daten von ihnen gespeichert seien, wurde vom Amtsgericht Dresden abgelehnt. Eine Auskunft, so der Amtsrichter Hans-Joachim Hlavka, könne es „derzeit wegen Gefährdung des Untersuchungszweckes“ nicht geben. Über ihren Berliner Anwalt Johannes Eisenberg haben die taz-Journalisten jetzt eine Anzeige wegen Rechtsbeugung gestellt. Eisenberg hält die Begründungs des Amtsrichters nicht nur für völlig absurd, sondern weist auch darauf hin, dass die taz-Journalisten „nicht im Verdacht irgendeiner wie auch immer gearteten Tatbeteiligung stehen“.
Gegen die Datensammelwut, gegen verdachtsunabhängige Datensammlung wurde Ende August auf die Webseite des Deutschen Bundestages eine Petition von Kai-Uwe Steffens vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung gestellt. Innerhalb von nur drei Wochen erreichte sie die notwendige Marke von 50.000 Unterzeichnern. Damit muss sich nun der Petitionsausschuss mit dem „anlasslosen Sammeln von Telekommunikationsdaten“ in einer öffentlichen Anhörung beschäftigen. Der Bundestag solle beschließen, „dass die verdachtslose Vorratsdatenspeicherung nicht zulässig ist“. Gleichzeitig solle der Bundestag auch die Bundesregierung auffordern, sich für die Aufhebung der entsprechenden EU-Richtlinie und für ein europaweites Verbot der Vorratsdatenspeicherung einzusetzen.
In der 2006 von der Europäischen Union verabschiedeten Richtlinie zur anlasslosen Speicherung von Kommunikations- und Lokationsdaten sehen die Veranstalter von „Freiheit statt Angst“ immer noch den „massivsten Überwachungseingriff, den die Europäische Gemeinschaft jemals beschlossen hat“. Den Nachweis, dass es der Datensammelei zwangsläufig für ein Mehr an Sicherheit bedürfe, seien die Strafverfolgungsbehörden europaweit schuldig geblieben.
Auch der Jurist und Datenschützer Patrick Breyer warnt vor einem diffusen Sicherheitswahn durch Sammelwut: „Sie würden nicht sicherer leben in einem Staat, in dem jede E-Mail, jeder Klick und jede Veröffentlichung im Internet rückverfolgbar ist.“