Kulturradios setzen auf regelmäßige Hörer und kulturelle Grundbildung
Im Rahmen des diesjährigen „PRIX EUROPA“, angesiedelt beim RBB, fand am 23. Oktober in Berlin auch der „BERLIN SUMMIT“, die jährliche Konferenz der europäischen Kulturradio-Manager statt. Dabei ging es um Programmstrategien, Hörerforschung und neue Plattformen zur Sicherung der Zukunft der europäischen Kulturwellen, die in der European Broadcasting Union (EBU) organisiert sind. M sprach mit Karl Karst, Programmchef von WDR 3 und Vorsitzender der EBU Culture Group.
M | Wie sieht die aktuelle Situation der Kulturradios in Europa aus?
KARL KARST | Stabil, weil die Bedürfnisse der Hörerschaft nach Kultur und Qualität wieder spürbar größer sind als in den vergangenen Jahren. Das hat auch zu tun mit der wirtschaftlichen Rezession. In diesen Zeiten besinnt man sich, hört genauer hin, will Orientierung haben. Daher haben die Kulturradios der Europäischen Rundfunkunion im Moment eine größere Bedeutung als in den Jahren zuvor.
M | Vor einigen Jahren tobte noch ein Kampf zwischen den „Fundis“, also Befürwortern reiner Klassikprogramme und „Realos“, die auf eine stärkere Vermischung von Klassik und Tagesbegleitprogramm setzen. Wie ist es heute?
KARST | Es gibt beide Systeme, Spartenprogramme und Mischprogramme, und beide sind auch nebeneinander berechtigt. Was wie und wo zum Zuge kommt, hängt von den jeweiligen Ländern ab, von den Bedürfnissen, von der Konkurrenzsituation, von den finanziellen Möglichkeiten. Ein großes Land wie Großbritannien kann es sich erlauben, mehrere „spezial-interest“ Programme anzubieten wie BBC3 oder BBC4. Ein großes Bundesland wie Nordrhein-Westfalen kann das mit WDR3 und WDR5 auch. Ein kleines Land wie Österreich kann es dagegen nicht. Deshalb gibt es dort ein großes Mischprogramm Ö1, einzigartig und besonders erfolgreich.
M | Wie stark stehen Kulturradiomacher unter dem Druck der Quote?
KARST | Die Quote ist ja ein „Lieblingsthema“ der Kulturradios. Da hat in letzter Zeit ein Sinneswandel stattgefunden. Es ist deutlich geworden, dass für die Kulturradios der zweite Messwert, der bei unseren Media-Analysen ermittelt wird, wichtiger ist als der erste. Der erste Wert ist die so genannte „Quote“. Das sind die Tageshörer, also jene, die täglich ein bestimmtes Programm hören. Diesen Wert brauchen vor allem die werbetragenden Programme, um die Minutenpreise ihrer Werbespots zu berechnen. Da Kulturradios keine Werbung haben, nutzen wir diese Zahl eher für die Tendenzberechnung. Der Wert, der wichtiger ist, ist der des so genannten weitesten Hörerkreises oder der regelmäßigen Hörer. Das sind zum Beispiel im Fall von WDR 3 rund 1,5 Millionen Hörer im Sendegebiet NRW. Das sind diejenigen, die das Kulturradio neben einem anderen Programm, das sie täglich hören, regelmäßig, aber eben nicht täglich einschalten. Diese Hörer verhalten sich wie das typische kulturinteressierte Publikum. Sie gehen eben nicht jeden Tag ins Theater, sondern nur ab und zu.
M | Wie reagieren die Kulturradios auf die Bedrohung ihrer Akzeptanz durch altersbedingte Hörerverluste?
KARST | Zunächst mal gilt: Die Alten sind ja nicht schlecht. Und sie werden auch nicht weniger. Das heißt, quantitativ ist das potentielle Publikum durchaus vorhanden. Nur: Das jetzt hinein wachsende Publikum in dieser Altersregion ist nicht in der gleichen Weise sozialisiert wie das frühere. Wir hatten zuvor mehrheitlich ein klassisches Bildungsbürgertum als Publikum. Heute haben wir einen kulturell breit interessierten Sechzigjährigen, und der muss anders angesprochen werden als ein heute 70–75jähriger. Trotzdem müssen wir intensiver als je daran arbeiten, für den Nachwuchs zu sorgen.
M | Wie wollen Sie das anstellen?
KARST | Innerhalb der
Kulturradiodebatte und auch in den öffentlichen Kultureinrichtungen, vor allem bei den Orchestern und den Musikvermittlern gibt es eine interessante Position: Wir sollten nicht bei denen anfangen, die 40 sind, sondern bei denen, die vier sind. Um dann langfristig die nächste Generation heran zu bilden. Unser Problem ist die Vernachlässigung der schulischen kulturellen Grundbildung in der Bundesrepublik der zurückliegenden Jahrzehnte. Sie hat dazu geführt, dass in der jungen Generation die Antennen für bestimmte Formen der anspruchsvollen Kultur kaum oder wenig ausgeprägt sind. Daran leiden im Moment alle Kulturträger, ob das nun Opernhäuser, Theater oder Rundfunkanstalten sind. Hier müssen Konzepte entwickelt werden, an denen in vielen Bereichen ja bereits gearbeitet wird.
M | Wie relevant sind die Online-Auftritte der öffentlich-rechtlichen Anstalten?
KARST | Die Internetpräsenz der Kulturradios gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Es ist interessant festzustellen, dass im Bereich des Podcast – das gilt europaweit – zu erkennen ist: „culture first“. Programmangebote, die mit Content verbunden sind, kleine Featureproduktionen wie das Zeitzeichen des WDR oder Hörspiele, Dokumentationen, Gespräche und Berichte, erreichen oft die höchsten Downloadzahlen in den Angeboten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Das ist auch ein Hinweis auf neue Zielgruppen und darauf, dass das Hörerpotential für inhaltsreiche Programmangebote mitunter größer ist als es die Tageshörer-Quote mit der vorhandenen Messmethode abbilden kann.
M | Wie sind die ersten Erfahrungen der Kulturradios mit dem Drei-Stufen-Test ausgefallen? Gibt es ähnliche bürokratische Prüfungsmonster auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten?
KARST | Wir haben festgestellt, dass dieses Verfahren in den EU-Ländern zwar einheitlich gilt, aber sehr unterschiedlich umgesetzt wird. Eine Einschätzung lässt sich allerdings verallgemeinern: Die Umsetzung des Verfahrens bedeutet immensen finanziellen und personellen Aufwand. Und: Es gehen viele gemeinwohlorientierte, kostenlose Internetangebote auf Nimmerwiedersehen verloren, weil die Rundfunkanstalten sie – aufgrund des fehlenden Programmbezugs oder der Limitierung ihrer Onlineangebote – nicht mehr anbieten dürfen. So gingen seit dem 1. Juni 2009 europaweit zahllose wertvolle Internetangebote für Kinder verloren, die zuvor von den öffentlich-rechtlichen Anstalten kostenlos ins Netz gestellt wurden. Kein wirtschaftliches Unternehmen hat ein Interesse daran, diese Angebote kommerziell zu betreiben.
Das Gespräch führte Günter Herkel