Farbecht, auch ohne Bilder

Beachtenswerte Hörfunkbeiträge beim Prix-Europa-Festival

Die zwölf Stier-Trophäen des Prix Europa sind am 25. Oktober 2008 im RBB-„Haus des Rundfunks“ vergeben worden. 213 Produktionen aus 31 europäischen Ländern waren in acht Kategorien für den Medienwettbewerb nominiert.

Wie immer seit Festivalgründung 1987 ging es um „Qualitätsproduktionen“ aus Fernsehen, Radio und Emerging Media. Das Neue? Festivalchefin Susanne Hoffmann erkennt „knallharte“ Themen und „eine wachsende Bereitschaft, das wahre Leben zu Wort kommen zu lassen, nicht wegzuschauen, auch wenn es weh tut“.

Die alte Mutter ruft aus dem Pflegeheim an. Sie sucht noch immer den „roten Faden“, wie sie dahin gekommen ist – gebrechlich, aber milde geworden. Derweil treten die Söhne ein Erbe und zum „Kehraus im Elternhaus“ an. Der Jüngere macht dort am Ende noch eine Party. Keiner der alten Kumpels aus Hippiezeiten hat richtig „Karriere“ gemacht … Die Radio-Dokumentation war am Pfingstsonntag im NDR gesendet worden. Eine sehr persönliche, nachdenkliche doppelte Lebensbilanz, die O-Töne mit dialogischen Reflexionen über die Rebellion in der Kindheit und „Mutters Schatten“ verbindet. Die etliche-hundert-köpfige „offene“ Jury verlieh dafür einen Prix Europa und würdigte die 55-Minuten-Sendung als Bestes Europäisches Radiofeature des Jahres 2008.
Überhaupt das Radio. Es trug den 35 deutschen Nominierungen nicht nur den einzigen Wettbewerbssieg ein. Andernorts eher stiefmütterlich behandelt, weil im Vergleich zum omnipotenten TV womöglich Glamour fehlt, konnte das Hörmedium bei diesem Wettbewerb neuerlich zeigen, was in ihm steckt. Vier Preise wurden an Funkbeiträge vergeben, erstmals auch einer für eine Hörspielserie. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass Serien beim medialen Kampf um Quote eine entscheidende Rolle spielen. Der Ideengeber für den Serienpreis, der Norwegische Rundfunk, schürte damit sogleich eine Kontroverse, ob nicht auf der Jagd nach Popularität das große, sprachlich, szenisch und produktionstechnisch ausgefeilte Werk auf der Strecke bleiben werde. Zumindest für 2008 traf diese Befürchtung nicht zu. Es gab schon unter den Nominierungen „auffallend wenig Krimis“ und Science-Fiction-Szenarien „nur in zwei Hörspielnominierungen“. Und der Sieger des neu gekürten Prix Europa Spezial „Das Konservenglas“ (Le Bocal), von Arte France eingereicht, macht der Profession alle Ehre: eine schräge Komödie mit schnellen und witzigen Dialogen, mit einem immer wieder überraschenden Mix aus Realton und produziertem Sound, intelligent und humorvoll gleichermaßen: Die prämiierte Folge erzählt von Mariannicks Arbeitsplatz im „Büro 19“, wo sie, ihr Kollege, der Tintenfisch, eine Neue und der Big Boss für die kulturelle Betreuung von Besuchergruppen zuständig sind. Und wo so manche und manches untergehen. Dieser Siegerbeitrag, wie auch der Spezialpreisträger bei der Feature-Serie „Eine Minute“ (1 Minuut) aus den Niederlanden zeigen: Hörspielproduktionen liefern heutzutage so gut wie alles, was Film kann, ausgenommen Bilder. Moderne Darstellungsformen, kurze, überraschende Schnitte, Mischung von Musik, Rap, Original- und Studio-Ton – all das wird virtuos beherrscht und genutzt. Und die behandelten Themen sind nah am Alltag, durchaus politisch und gesellschaftskritisch.
Man vergisst es mitunter, aber: „Insgesamt gibt es mehr Radiohörer als Fernsehzuschauer. Radio ist ein diskreter und flexibler Begleiter für alle Lebenslagen“, ermunterte Raina Konstatinovna, Radiodirektorin der europäischen Rundfunkunion EBU die Radiomacher zu weiteren Höchstleistungen. Die „Top 5“ der Hörspielproduktionen, die aus Estland, Frankreich, Großbritannien und Irland kamen, ermutigen. Als „beispielhaft“ wertete die Jury den Preisträger in der Kategorie „Radio Fiction“; „The Picture Man“ kommt aus England. Der 63-Minuten-BBC-Produktion wird bescheinigt, dass der geschickte Aufbau des Skripts sich in einem gefälligen Stil und professionell gestalteten Sound widerspiegelt. Dabei geht es auch hier nicht um Belangloses. Erzählt wird von Neil, einem geschiedenen Angestellten, der sich in der Großstadt als Hüter von Recht und Moral aufspielt und selbst Opfer seiner zwanghaften Belehrungs- und Kontrollsucht zu werden droht. Als „Picture-Man“ erlangt er kurzen Medienruhm, als dank seiner Fotos drei jugendliche Räuber dingfest gemacht werden. Doch ein weiterer Streifzug, bei dem er lärmende Girlys in einem Bus ablichtet, kostet ihn die frisch geleaste Digitalkamera und sein linkes Auge. Danach setzt er seine urbane Donquichotterie quasi im Untergrund fort. Eine schwarze Komödie, farbecht, obwohl mit allen Wassern moderner Radiokunst gewaschen.
Der bunten Filmwelt sind beim Festival noch immer sieben Stiere vorbehalten, wobei mit Preisen für lokale und Low-Budget-Dokumentationen, für multikulturelle Programme oder das beste Drehbuch eines Nachwuchsautors auch hier in Kategorien gepunktet wird, die sonst eher ein Schattendasein führen. Nachdem der Prix Europa Allianz im vergangenen Jahr fünf neue Träger beigetreten sind, stehen nun 25 Organisationen, Körperschaften und Rundfunkanstalten dafür, dass er sich weiter als „der Ort für professionelle Ehrlichkeit“ (Hoffmann) profilieren möge .


Die Preisträger –  Prix Europa 2008

Prix Europa 2008–TV/Fiction/Best Television Fiction Programme: „Let’s go to the Movies tomorrow“ (Polen) von Jerzy Stefan Stawinkski (Buch) und Michal Kwiecinski (Regie); lobende Erwähnung: „Kings“ (Irland) von Tom Collins (Buch/Regie). Spezialpreis Best Episode of a Television Fiction Series or Serial: „Silver Stars, episode 1/3“ (Finnland) von Kaarina Hazard und Leea Klemola (Buch) sowie Auli Mantila (Regie); lobende Erwähnung: „Berlin Poplars“ (Norwegen) von Anne Regine Kløvholt (Buch) und Anders T. Andersen (Regie). TV/Documentary/Best Television Documentary Programme: „Testimony“ (Rumänien, Koproduzent ARTE) von Razvan Georgescu; lobende Erwähnung: „Divorce Albanian Style“ (Bulgarien, Koproduzent WDR) von Adela Peeva. Spezialpreis Best Regional, Local or Low-Budget Television Documentary: „Ada Gallery“ (Polen) von Uladzimir Kolas; lobende Erwähnung; „Hotel Rooms“ (Türkei) von Sevinc Yesiltas. TV/Current Affairs/Best Television Current Affairs Programme: „Men in Danger“ (Frankreich, Koproduzent ARTE) von Sylvie Gilman und Thierry de Lestrade (Buch/Regie); lobende Erwähnung: „Dirty Cargo“ (Norwegen) von Kjersti Knudssøn (Buch/Regie) und „Not my Business“ (Schweden) von Magnus Svenungsson und Pelle Westman (Buch) sowie Kenny Adersjo (Regie). TV/Iris/Best Multicultural Television Programme: „God’s Waiting Room“ (Großbritannien) von Heenan Bhatti; lobende Erwähnung: „Cross Aid Post“ (Niederlande) von Maria Mok und Meral Uslu (Buch/Regie) sowie „White Girl“ (Großbritannien) von Abi Morgan (Buch) und Hetti MacDonald (Regie). Prix Genève-Europe/Best Television Fiction Script by a Newcomer: „Fortunes“ (ARTE France) von Alix Delaporte. Radio/Documentary / Best European Radio Documentary: „Mutters Schatten–Kehraus im Elternhaus“ (NDR/ARD) von Lorenz Rollhäuser (Buch/Regie); Spezialpreis Radio Documentary: „1 Minute“ (Niederlande) von Chris Bajema u.a.; lobende Erwähnung: „A-Moll–Eine Annäherung auf weißen Tasten“ (Österreich) von Philip Scheiner (Buch/Regie). Radio/Fiction/Best European Radio Drama: „The Picture Man“ (Großbritannien) von David Eldridge (Buch) und Sally Avens (Regie); lobende Erwähnung: „The Day“ (Estland) von Andres Noormets (Buch/Regie). Spezialpreis Best Episode of a Radio Drama Series or Serial: „The Fish Tank“ (ARTE France) von Mariannick Bellot und Christoph Rault (Buch/Regie); lobende Erwähnung: „Q & A,–1,000,000 Rupees“ (Großbritannien) von Ayeesha Menons (Buch) und John Dryden (Regie). Emerging Media/Exploration/Best European Emerging Media Project: „Gaza/Sderot–Life in spite of everything“ (Palästina, ARTE France); lobende Erwähnung: „Mx3–Swiss Music Plattform“ (Schweiz) und „Pascal’s diaries“ (Spanien).

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