Friedenspalme statt deutscher Eiche

Zum 100. Geburtstag des Bürgerpräsidenten und Kämpfers für die Pressefreiheit Gustav Heinemann am 23. Juli

Sie kamen an einem Freitagabend, kurz nach 21 Uhr. Sie kamen mit dem Verdacht, es sei Landesverrat begangen worden. Sie besetzten alle fünf Etagen der Hamburger Zentrale, die Chefredaktion und die Besenkammern, das Archiv und die Toiletten, das Fotolabor und die Vertriebsabteilung. Sie besetzten die Arbeitsplätze von 209 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, und da blieben die Amtswalter fünf Tage lang.

Die Aktion galt dem „Spiegel“, der sie in seiner Nummer 45/62 so ähnlich geschildert hat, und sie war beispiellos. Hintergrund für den ministeriellen Racheakt war ein Artikel mit der Überschrift „Balkan in Bonn?“ in der Ausgabe Nr. 40 vom 3. Oktober 1962. „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein hatte unter seinem Pseudonym „Moritz Pfeil“ gefragt:

„Ist Dr. Aloys Brandenstein, der Nenn-Onkel der Frau Marianne Strauß, durch Vermittlung des Ministers innerhalb eines Jahres mehrfacher Millionär geworden, nachdem er vorher nie im Rüstungsgeschäft tätig und in anderen Geschäften bis aufs Hemd abgebrannt war? … Es mag sein, daß Opposition und Presse die Streitigkeiten um den Verteidigungsminister (Franz Josef Strauß) leid sind. Wäre dem so, dann müßte man es als Zeichen dafür nehmen, daß der Organismus Bundesrepublik schon aufgehört hat, gegen die Balkanische Krankheit, die von München aus das Land infiziert, Abwehrstoffe zu entwickeln.“

„Spiegel“-Affäre

Zuvor hatte der „Spiegel“ die „Onkel-Aloys-Affäre“ enthüllt, und es war klar, daß das Blatt nicht locker lassen und auf Untersuchung drängen werde. Strauß konterte mit der „bewußten Ausforschung eines Presseunternehmens“, wie „Spiegel“-Anwalt Horst Ehmke später vor dem Bundesverfassungsgericht formulierte. Der damalige Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU) gab dann im November 1962 im Bundestag zu, es sei „etwas außerhalb der Legalität“ verfahren worden. Und er könne schließlich nicht immer mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen.

Was hat ein Geburtstagsartikel zum 100. von Gustav Heinemann eigentlich mit der Affäre von 1962 zu tun? Wiewohl „verdammtlangher“, hat beides sehr viel miteinander zu tun, denn durch diesen Skandal, der sich zur Regierungskrise mauserte, befaßte sich Heinemann intensiv mit der Pressefreiheit. Wie kein anderer Politiker hat er das Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit ins Zentrum der Verfassung ge-rückt und seine Rolle als konstitutives Element der Demokratie betont. Für ihn sind alle Strafrechtsnormen so auszulegen, daß sie den Artikel 5 des Grundgesetzes nicht beeinträchtigen. „Weil Meinungsfreiheit in gewissem Sinne die Grundlage aller Freiheit überhaupt ist und alle Demokratie von der Meinungsfreiheit bewegt wird, müssen alle Einrichtungen und Rechtssätze der Demokratie dieser Meinungsfreiheit dienen.“

Die Redaktionsdurchsuchungen verstärkten noch Heinemanns über viele Jahre hinweg engagiert vorgetragene Kritik am politischen Strafrecht. Jetzt kümmerte er sich auch um das Presserecht, um den „publizistischen Landesverrat“ und den Wert der Pressefreiheit. Damals wurde der Verdacht auf Landesverrat bemüht, um die Hausdurchsuchungen zu begründen. Heute muß häufig der Verdacht auf Beihilfe zum Geheimnisverrat herhalten.

Ablehnung des Obrigkeitsstaates

Heinemanns hohe Einschätzung der Pressefreiheit hing fundamental mit seiner Ablehnung gegenüber dem Obrigkeitsstaat zusammen. Sehr zurecht, so befand er, werde anläßlich der „Spiegel“-Affäre gefragt, ob unser Rechtsstaat in Gefahr sei. Er war der Meinung, daß jeder Rechtsstaat ständig in Gefahr sei, weil sein Bestand davon abhängt, daß alle seine Glieder und Bürger von seinem besonderen Wert durchdrungen sind. Selbst Amtsträger, die ja auch nur Menschen seien, „unterliegen der Versuchung zu herrschen oder im Eifer eines Gefechtes ,etwas außerhalb der Legalität‘ zu verfahren … Dann aber sind Anfänge da, denen es zu widerstehen gilt, wenn nicht alles ins Rutschen kommen soll“, schrieb er im Februar 1963 in einem Appell an die Jugend.

Für Heinemann ging es noch um etwas anderes, geradezu um eine Bewährungsprobe der Bundesrepublik. Peter Koch hatte im „Stern“ von „einem Abgrund von Amtsanmaßung, Kompetenzüberschreitungen, Rechtsverletzungen und Lügen“ gesprochen – einem Abgrund, an dessen Rand Franz Josef Strauß hing, der die „Spiegel“-Aktion als persönliche Vendetta angezettelt und dafür gesorgt hatte, daß die spanische Polizei „Spiegel“-Redakteur Conrad Ahlers an seinem Urlaubsort Torremolinos (und Rudolf Augstein in Hamburg) festsetzte.

Protest gegen Aufrüstungspolitik

Würden die Deutschen sich gefallen lassen, was an Verstößen und Verdunkelungen seitens der Behörden geschah oder würden sie ihre Regierung und deren Beamte zur Ordnung rufen? Würden sie, denen alle Welt anlastet, in der Vergangenheit so verhängnisvoll obrigkeitsfromm gewesen zu sein, die Untertänigkeit aufgeben? Würden sie den Regierenden klar machen, daß sie nur Beauftragte und Diener ihrer Bürger, nicht aber deren Herren sind? Nun: Es kam immerhin zu einer bis dahin nicht erlebten Welle von Protesten und Kundgebungen. Und Franz Josef Strauß mußte als Verteidigungsminister seinen Schreibtisch räumen.

Gustav Heinemann war selber als Minister zurückgetreten, freiwillig allerdings. Das ist fast fünfzig Jahre her. Damals, im Oktober 1950, legte er als erster Bundesinnenminister sein Amt aus Protest gegen die Aufrüstungspolitik Adenauers nieder. Seine Warnung, die jetzt im Juli 1999 ebenso aktuell ist, lautete: „Die militärische Macht wird nahezu unvermeidlich wieder eine eigene politische Willensbildung entfalten.“ Dafür wollte und konnte er keine Mitverantwortung tragen. Er verließ auch die CDU und ging 1957 zur SPD mit der Hoffnung, dort Mitstreiter gegen die Wiederaufrüstung zu finden.

Strafrechtsreform

Als 1966 die SPD zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Regierungsverantwortung – allerdings in einer Koalition – übernehmen konnte, wurde der Rechtsanwalt aus Schwelm, der Oberbürgermeister in Essen gewesen war, Justizminister. Er leitete die Strafrechtsreform ein, gegen die dann juristische Hilfstruppen aus dem Süden Sturm gelaufen sind. Am 5. März 1969 geschieht „die große Unbegreiflichkeit“ in seinem Leben, wie er später selbst gesteht: Er wird zum Bundespräsidenten gewählt. Angesichts dessen, daß er selber in den fünfziger Jahren unter Kommunismusverdacht und der Beobachtung des Verfassungsschutzes stand, amüsiert er sich, daß das in den 50ern „niemand auch nur zu denken gewagt“ hätte. So unterschreibt der „Bürgerpräsident“, wie er oft genannt wird, dann 1972 die Ostverträge Willy Brandts. Ernst Maria Lang zeichnete ihn in der „Süddeutschen Zeitung“, wie er vor der Villa Hammerschmidt eine Friedenspalme pflanzt. Unterschrift: Bundesgärtner Heinemann: „Eichen gibt’s genug in Deutschland …“

Für Heinemann, den Überzeugungstäter, ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend. Von der Meinungsfreiheit hing für ihn das Funktionieren dieser Staatsordnung ab, „indem sie den geistigen Kampf, die freie Auseinandersetzung der Ideen und Interessen sowie die Kritik an den Handlungen der Regierung oder Verwaltung ermöglicht.“ Seiner Meinung nach umfaßt die Pressefreiheit wesentlich mehr als nur ein ungehindertes Drucken und Verkaufen von Zeitungen und Zeitschriften. „Um eine Zeitung herausbringen zu können, bedarf es auch des Zuganges zu legalen Informationen und des Redaktionsgeheimnisses, d.h. des Schutzes von Vertrauensbeziehungen zu Informanten einschließlich eines Zeugnisverweigerungsrechtes für Redakteure hinsichtlich ihrer Nachrichtenquellen“ schrieb er in der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ 1963. (4ff)

„Demokratiegefährdung durch Geheimnistuerei“

„Außer Staatsgefährdung durch Geheimnisverrat gibt es auch Demokratiegefährdung durch Geheimnistuerei samt strafrechtlichen Fallstricken für legitime Opposition.“ Nein, das ist nicht ein Satz, der nach der Bremer Medienrazzia im August 1996 geschrieben wurde, sondern schon 1963, als sich Heinemann mit dem „publizistischen Landesverrat“ beschäftigte. Gerade was wir jüngst erlebt haben, nämlich daß Journalistinnen und Journalisten zu bloßen Sortiermaschinen für die Propagandamitteilungen beider Kriegsparteien degradiert wurden, macht Heinemanns Ausführungen zur Pressefreiheit in Kriegszeiten anläßlich der Notstandsgesetze so brandaktuell. „Was im Falle eines Notstandes, also beispielsweise Krieg oder Kriegsgefahr, am dringlichsten nottut, ist die Gewißheit der Staatsbürger, daß ihnen die Wahrheit gesagt wird“, schrieb Heinemann.

Seiner Meinung nach war der Regierungsentwurf zu den Notstandsgesetzen von einer Mißachtung der Presse durchzogen, gegen die sich der Deutsche Presserat mit Recht zur Wehr setze. „Aus altem obrigkeitlichen Denken, wie es in Deutschland längst noch nicht überwunden ist, sondern zumal noch tief in der Bürokratie sitzt, wird die Presse ,primär als eine lästige, gefährliche, des Vertrauens nicht würdige Einrichtung‘ betrachtet“, kommentiert Heinemann und schreibt auch damit wieder einen Satz, der heute für Politiker vieler Couleur gültig ist, die die Pressefreiheit lieber ein bißchen mehr zurechtstutzen würden. „Nur wenn das anders wird, kann das, was des Staates ist, und das, was des Bürgers in der Demokratie ist, sich finden.“

Gegen Pressekonzentration

Heinemann unterstrich aber auch die Notwendigkeit, eine umfassende Meinungsbildung aufgrund eines breiten Angebots zu ermöglichen. Er sah die Gefahr, daß Konzentrationsbewegungen in den Medien die Unabhängigkeit von Journalisten einschränken. Es werde entscheidend darauf ankommen, die Vielfalt auch in der Presse zu erhalten und zu mehren. Nun leben wir in Zeiten, in denen wenige global tätige Konzerne den Weltmarkt im wesentlichen unter sich aufgeteilt haben. Und wir leben in Zeiten, in denen Kommentare zum 630-Mark-Gesetz in vielen Redaktionen Chefsache sind. Für Heinemann durfte es „über die garantierte Meinungsfreiheit jedes einzelnen Journalisten, die im Grundgesetz ausdrücklich bekräftigt ist, keine Diskussion geben.“ Stimmt. Diskussion gibt es derzeit in vielen Redaktionen nicht, sondern es wird bestimmt, was geschrieben werden darf, und zwar von oben. Die journalistische Unabhängigkeit scheint in diesem Punkt Ausgang zu haben.

Pressekodex

Auch die Geschichte des Deutschen Presserats ist mit Gustav Heinemann eng verbunden. 1973 hat er in der Villa Hammerschmidt die Grundsätze für die publizistische Arbeit im Pressekodex entgegengenommen. Er war ein glühender Verfechter der Selbstkontrolle. „Jedes Rufen nach einem starken Staat als Schlichter zwischen unterschiedlichen Auffassungen untergräbt die Eigenverantwortlichkeit“, sagte er damals in Bonn. Und er unterstrich den Zusammenhang zwischen der Einhaltung des Pressekodex und einer guten Journalistenausbildung als Garant für journalistische Qualität. Dennoch hat es nochmal zwanzig Jahre gedauert, bis die Ausbildung tariflich geregelt wurde.

Heinemann ging übrigens selber mal unter die Zeitungsmacher. Als 20jähriger Jurastudent gab er mit drei Kommilitonen die Marburger Stadtbrille heraus. Sie habe einen zwar nur kurzlebigen, aber doch bedeutenden Erfolg gehabt, witzelte er nach 50 Jahren. Dieses sei darauf zurückzuführen gewesen, „daß das Blatt so gut wie nichts enthielt, was nicht erfunden war.“ Dies war einer der seltenen Fälle, in denen sich Heinemann humorvoll-ironisch ausdrückte. Sonst hielt er es sprachlich mit Sokrates. Der erklärte zu Beginn seiner Verteidigung vor Gericht, er werde „bei Zeus“ nicht „im Wortputz zierlicher und geblümter Rede“, sondern gerade heraus sprechen. Heinemanns Sprache kam ohne Verrenkungen und ohne Schnörkel aus. Es war eine juristische Sprache, allerdings eine, die verständlich war – was man von den Verlautbarungen anderer Juristen nicht immer behaupten kann. Und er sagte und schrieb manches, das man zweimal lesen sollte – zumal heute.

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