Debatte zu dokumentarischen Sendungen im deutschen Fernsehen
Unter dem Titel „Alles Doku oder was“ hatte es 2003 eine erste Analyse zu den dokumentarischen Programmen im deutschen Fernsehen gegeben. Die Ausdifferenzierung stand im Fokus, doch stellte Autor Fritz Wolf bereits damals eine zunehmende Formatierung von TV-Dokumentationen fest. Die Gefahr ist mitnichten gebannt, zeigt nun seine aktuelle Untersuchung. Das beklagte auch die Mehrzahl der Diskutant*innen bei der Präsentation durch AG DOK und Grimme-Institut zum Berlinale-Start am 7. Februar.
Auf dem Höhepunkt der Debatte um gecastete Dokumentarfilm-Protagonist*innen wolle man sich „einmischen in die Programmpolitik des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“, erklärte Thomas Frickel von der einladenden Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V. Das Dokumentarische, mit dessen Hilfe die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit abgebildet werden könne, werde mit untergeordneten Programmplätzen abgespeist und leide unter einengender Formatierung. Seien vor 15 Jahren etwa 60 Prozent der dokumentarischen Sendungen in Programmformate eingepasst gewesen, betreffe das heute bereits 70 bis 80 Prozent, erbrachte die neuerliche Studie. „Nicht nur in dieser Ausschließlichkeit ist das bedenklich“, erklärte Frickel und postulierte, dass die „Sorge um die Qualität des Dokumentarischen in den öffentlich-rechtlichen Programmen eine gesamtgesellschaftliche Fragestellung wird“.
Neben ausgewählten Daten aus der aktuellen Analyse lieferte Fritz Wolf als Verfasser der Studie Einschätzungen, die in der Debatte vielfach aufgegriffen wurden. Zwar habe die neue Untersuchung, in die private Sendeanstalten nicht mehr einbezogen sind, eine registrierbare Zunahme dokumentarischer Sendungen ergeben. Doch sieht Wolf in der üblichen Platzierung – die Mehrzahl werde in Nischen verbannt, spät abends oder gar nachts ausgestrahlt – einen Indikator mangelnder Wertschätzung. Die Folge: viele Zuschauer*innen wüssten nicht, wo man solche Dokumentationen im Programm findet. Zudem zeigten die großen Hauptsender ARD/Das Erste und ZDF prozentual die wenigsten dokumentarischen Sendungen, ihre Zahl habe sich gegenüber 2002 deutlich verringert. Und den Programmacher*innen selbst in der ARD fehle „die Expertise, wann Dokumentarfilme Primetime-fähig sind“, so Wolfs These. Dabei habe die dokumentarische Gattung „mehr Potenzial, wenn man es nutzte“.
Produzieren in Kategorien und Druck von außen
Auf dem ersten Podium “Viele Sendeplätze, wenig künstlerische Handschrift“ bestätigten Praktiker*innen die Einschätzung von mangelnder Wertschätzung. Produzentin Meike Martens (Blinker Filmproduktion) machte sie an konkreten Budgethöhen deutlich, die Sender für Dokumentarfilme bereitstellen. Zunehmende Formatierung führe „zum Verlust von Autorenhandschrift“, man müsse „in Kategorien denken“, beklagte etwa André Schäfer, Produzent und Regisseur bei Florianfilm: „Bislang suchen wir uns unsere Stoffe noch aus, aber das Redaktionsverhalten ändert sich auch.“ Sonja Otto, Producerin und Autorin von Indi Film, sah in ARTE den „letzten Hafen für abendfüllende Dokumentarfilme“. Ohne solche Sender seien lange und einen langen Zeitraum überdeckende Projekte nicht mehr finanzierbar. Georg Tschurtschenthaler, Producer bei der Gebrüder Beetz Filmproduktion, erwartete vor allem Druck von außen auf die Branche. 2018 habe die Zeitenwende markiert, in der unter 30-Jährige „mehr nonlinear als linear“ kommunizierten. Youtube, Netflix und die Mediatheken gewännen bei ihnen die mediale Oberhand. „Doch die Wertschöpfungskette hängt noch an der analogen Welt, die es so gar nicht mehr gibt.“ Giganten wie Netflix befruchteten partiell den Markt, sorgten für mehr Wertschätzung des Genres, trügen bei, erzählerische Grenzen auszuweiten, doch sei andererseits klar: „Das ist ein amerikanischer Konzern, die wollen die Weltherrschaft.“
Kreative erfahren keine Wertschätzung
„Immer mehr Formate – Abbild oder Zerrbild der Wirklichkeit?“ war Thema des zweiten Podiums, auf dem sich Programmacher Robert Bachem von ZDFinfo und Matthias Kremin, Leiter des Programmbereiches Kultur und Wissenschaft im WDR-Fernsehen, gegenüber ihren Mitdiskutant*innen zu behaupten hatten. Bachem trat die Flucht nach vorn an, hielt „die Sendeplatzdebatte für übertrieben“. Er verwies auf 1800 vollfinanzierte Auftragsproduktionen von ZDFinfo. Die Mediathek belege, Dokumentationen seien die erfolgreichste Rubrik; der Dokumarkt floriere, das Genre zeige sich „extrem in Bewegung“. Im Hauptprogramm sei Formatierung vielleicht ein Problem, „bei ZDFinfo – nein!“ Dagegen sprach Dr. Frauke Gerlach, Direktorin des Grimme-Instituts, von einer „mehr und mehr fragmentierten Öffentlichkeit“, die gesellschaftliche Orientierung dringend nötig habe. Für die „Agenda-Setting-Funktion“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sei die beste Sendezeit noch immer von großer Bedeutung. Zur Primetime vermisse sie Dokumentarisches. WDR-Programmchef Kremin verwies auf „feste Sendeplätze“, etwa Montag um 20.15 Uhr. Bachem sah „vieles missverstanden“. So läge die „beste Sendezeit“ für Dokumentarisches um 22.15 Uhr. Allerdings ließen sich das weder die Öffentlichkeit noch die Kreativen erklären. Fritz Wolf forderte dagegen, an der Programmgestaltung etwas zu ändern. „Gut, um 20.15 Uhr gehen etliche Dokus nicht, aber nach Mitternacht sind sie sinnlos.“ Die Sender sollten ihre Werbeetats auf Dokus ausweiten und Dokumentarisches besser ankündigen. Dr. Hermann Kuhn vom ARD-Programmbeirat gab zu bedenken, dass die öffentlich-rechtlichen Sender noch immer auf die zeitlich lineare Ausstrahlung angewiesen blieben, um ihren Kernauftrag Information und Bildung zu erfüllen. Es läge ein starkes Gewicht auf Formaten, wie sie Dokumentarfilme mit künstlerischem Anspruch vertreten. Doch müsse zugleich das Publikum ernst genommen werden. „Deshalb kümmern wir uns auch um die Sendeplätze. Die stehen für Qualität und für die gesellschaftliche Bedeutung des Programms.“
Dass die Wertschätzung bei den Kreativen nicht ankomme – „die dringen bei den Sendern damit, was sie in der Pipeline haben, überhaupt nicht durch“ –, machte Projektleiterin Petra Hoffmann von der AG DOK geltend: „WDR-Fernsehdirektor Schönenborn will das formative Fernsehen noch weiter ausbauen, wohin soll das führen?“ Matthias Kremin sah eine Formatdebatte lediglich zwischen Kino- und Fernsehfilmen berechtigt, ansonsten sei sie müßig. „Die ARD ist das System, das den Dokumentarfilm am Leben erhält“, erklärte er. Warum dann ausgerechnet der WDR keinen festen Dokfilm-Sendeplatz besitze, wurde daraufhin aus dem Publikum gefragt.
„Die Quote reicht nicht als Währung, Veränderung muss von vielen Seiten kommen“, fasste Frauke Gerlach in der Schlussrunde zusammen. Robert Bachem verwies darauf, dass ZDFinfo im Vorjahr 17 Mio. Euro für Dokumentrisches ausgegeben habe und der Etat 2019 um vier Millionen erhöht worden sei. „Wir sind kein Formatprügler“, es herrsche kein böser Wille vor, versicherte er. „Ich will es deutlich sagen: Wir brauchen die Kreativen und ihre Vorschläge.“
Die neue Studie
Die druckfrische Studie „Deutschland – Doku-Land. Viele Sendeplätze, immer noch mehr Formate und noch weniger künstlerische Handschrift“ von Fritz Wolf ist eine “Wiedervorlage“ seiner ersten Untersuchung zu den dokumentarischen Sendeplätzen aus dem Jahr 2003.
Die aktuelle Analyse erfasste im Untersuchungszeitraum 1656 Programme mit dokumentarischem Inhalt. Im Herbst 2002 waren dagegen 1481 Sendungen gezählt worden. Die Programmanteile und Sendezeiten in den einzelnen Sendeanstalten werden detailliert erfasst und mit der Vorstudie verglichen. Die Studie untersucht auch, mit welchen Inhalten sich die dokumentarischen Sendungen befassen, fragt nach thematischen Schwerpunkten, erfasst nun auch Gendergesichtspunkte. Bemerkenswert: Reise und Kultur sind das Hauptthema dokumentarischer Sendungen, Tiere folgen. Wissenschaft und Technik landen nur auf dem achten Platz. Die Analyse war von der AG DOK gemeinsam mit dem Grimme-Institut und der VG Bild-Kunst beauftragt worden.