Der Hype um das Rezo-Video ist zwar verflogen, doch dessen Bedeutung für den politischen Diskurs, auch für Medien und Journalismus, wurde längst noch nicht geklärt. Der Kommunikationswissenschaftler Lutz Frühbrodt kennt sich in der Influencer-Szene bestens aus und hat für die Studie „Unboxing YouTube“ die Maschinerie dahinter untersucht. Er meint: „Die berufsethischen Standards des Journalismus müssen auf neue Formate digitaler Medienkanäle ausgeweitet werden.“
YouTuber „haben im Idealfall auch politische Werte und Überzeugungen. Insofern halte ich das etwas brachial vorgebrachte Anliegen Rezos für authentisch. Einerseits. Andererseits werde ich den Verdacht nicht los, dass hier eine ganze Szene noch rechtzeitig auf den Zug der Öko-bewegten Jugend aufspringen will. Dahinter könnten also auch merkantile Interessen stehen“, sagte Frühbrodt Ende Mai im Interview mit dem Cicero und unterstellte dem YouTuber Rezo demnach nicht nur idealistische, sondern auch kommerzielle Motive.
Verwunderlich ist das nicht, denn, so der Medienexperte während der Vorstellung seiner gemeinsam mit Annette Floren erarbeiteten Studie im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung (OBS) auf der diesjährigen re:publica: „Influencer sind auch Unternehmer.“ Als solche hätten sie ein breites Portfolio an Geschäftsaktivitäten zu managen – angefangen bei der integrierten Werbung und Produktplatzierung sowie Gastauftritten bei anderen Influencern und in Film und Fernsehen über die Moderation auf Unternehmenskanälen, Live-Tourneen bis hin zu Vertrieb und Vermarktung von Merchandising-Artikeln, eigenen E-Shops oder gar Produktlinien. Und weil das nicht allein bewältigt werden könne, so Frühbrodt, benötigten Influencer eine „professionelle Betreuung“, und zwar durch spezialisierte Agenturen.
So weit, so bekannt. Weniger bekannt dürfte dagegen sein, wer hinter diesen sogenannten YouTube-Agenturen steckt: große Medienkonzerne wie ProSiebenSat1, RTL, Ströer oder Gruner + Jahr.
Profis und Profiteure
Studio71, Tochterunternehmen der ProSieben-Sat1-Gruppe, hat etwa mit LeFloid einen der prominentesten YouTuber unter Vertrag, beschreibt Frühbrodt in seiner Studie. Die Agentur ist in Deutschland und fünf weiteren europäischen Ländern tätig, gilt mit über 200 betreuten digitalen Kanälen und rund 130 Influencern als Marktführer in Deutschland und ist außerdem einer der größten Akteure auf dem US-amerikanischen Markt. „International betreut das Netzwerk 1.300 YouTube-Kanäle“, schreibt Frühbrodt. Darüber hinaus arbeitet Studio71 auch als Werbevermarkter, stellt in seinen eigenen Studios Auftragsproduktionen wie etwa „Guten Morgen, Internet!“ für den ARD-ZDF-Jugendkanal Funk her und verwertet Inhalte der ProSieben-Sat1-Gruppe wie „Galileo“ oder „Germany’s Next Top Model“ auf YouTube.
YouTuber Rezo arbeitet dagegen mit der zum Ströer-Konzern gehörenden Agentur Tube One zusammen. „Innerhalb des Konzerns, der 2017 rund 1,3 Milliarden Euro Umsatz machte, ist das YouTube-Netzwerk Tube One in die Ströer Content Group eingegliedert“, so Frühbrodt in seiner Studie. „Diese produziert die Inhalte der verschiedenen Portale und spielt sie über verschiedene digitale Kanäle aus – darunter auch YouTube.“ Der ursprüngliche Außenwerber Ströer ist längst auch als Online-Vermarkter tätig und betreibt große Nachrichtenplattformen wie etwa T-Online, eines der reichweitenstärksten deutschen News-Portale.
Letzteres dürfte für den Erfolg des Rezo-Videos von wesentlicher Bedeutung gewesen sein, denn „virale ‚Hits‘ sind in der Regel keine Zufallstreffer“, so Frühbrodt gegenüber M, „sondern das Ergebnis gezielter Marketing-Aktionen, die vor allem über das Internet und soziale Medien ausgeführt werden. Rezo hatte sicher den zusätzlichen Vorteil, dass der hinter ihm stehende Ströer-Konzern darüber hinaus journalistische Medien wie T-Online zur Verbreitung einsetzen konnte.“
„Wahnsinnige Meinungsmacht“
Wenn Influencer, denen Frühbrodt „eine wahnsinnige Meinungsmacht“ zuspricht, mit ebenso mächtigen Medienkonzernen im Rücken agieren, wirft das unweigerlich die Frage auf, was das für die Meinungsvielfalt und die Demokratie bedeutet – und ob die Aktivitäten von Influencern auf YouTube und anderswo in irgendeiner Form der Regulierung bedürfen.
In diese Richtung zielte seinerzeit auch die viel kritisierte Forderung der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, mittlerweile auch Bundesverteidigungsministerin, „klare Meinungsmache vor einer Wahl“ einzuschränken und für den digitalen Bereich ähnliche Regeln wie für Tageszeitungen zu finden. Auch wenn Frühbrodt diese Reaktion „bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen“ kann, sagte er im bereits zitierten Gespräch mit dem Cicero, habe Kramp-Karrenbauer „Äpfel mit Birnen“ verglichen, da Rezo sowie die 90 Influencer, die sich zur Europawahl an die Öffentlichkeit wandten, eher der Unterhaltungsbranche zuzuordnen seien. Dennoch zeuge der „so genannte offene Brief der Influencer von einem gewissen Niedergang der politischen Kultur, weil er so kurz vor den Wahlen kam und vor allem, weil er explizit zur Nichtwahl von Parteien aufrief“.
Journalismus neu definieren?
Gegenüber M fordert der Medienwissenschaftler deshalb eine Debatte darüber, wie eine zeitgemäße Definition von Journalismus aussehen könne: „Mit ‚zeitgemäß‘ meine ich eine Definition, die der zunehmenden Entgrenzung des klassischen Journalismus und zugleich den verschiedenen digitalen Medienkanälen Rechnung trägt sowie vor allem den neuen Formaten, die daraus resultieren. Ist dies hoffentlich schnell erreicht, gilt es, ebenso zügig die berufsethischen Standards des Journalismus darauf auszuweiten.“ Am besten, so Frühbrodt, ginge das über den Medienstaatsvertrag.
Der ist, auch zur Umsetzung der europäischen Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie), gerade in der Überarbeitung. Ein neues Regelwerk soll bis Ende des Jahres beschlossen werden. Noch bis zum 9. August können Bürgerinnen und Bürger sowie Institutionen und Organisationen Eingaben und Stellungnahmen dazu an die Rundfunkkommission der Länder schicken.