Kind müsste man sein: Sehenswertes Angebot für die jüngsten Zuschauer im deutschen Fernsehen
Das deutsche Fernsehen, sagen hiesige TV-Redakteure gern, sei das Beste der Welt. Angesichts diverser programmlicher Abgründe mag man die Behauptung für absurd halten, aber der Maßstab ist ja nicht das Ideal, sondern die Realität; und die sieht in vielen ausländischen Fernsehmärkten deutlich trauriger aus als hierzulande. Ihre Berechtigung hat die Aussage allerdings ohne Einschränkungen in Bezug auf das Angebot für Kinder. Das liegt vor allem am öffentlich-rechtlichen Kinderkanal, dem über weite Strecken des Programms die Kombination von Qualität und Quote gelingt.
Dank der Zulieferungen von ARD und ZDF sowie bemerkenswerter Eigenproduktionen hat der Kika gerade im Bereich Information eine Vielzahl herausragender Sendungen zu bieten. Das Spektrum reicht vom Medienmagazin „Trickboxx“ (Kika) bis zu Wissensreihen wie „Wissen macht Ah!“ (WDR) oder „Willi wills wissen“ (BR), von den Kindernachrichten „logo!“ bis zum Ratgebermagazin „pur+“ (beide ZDF). Mit der Kinder-Soap „Schloss Einstein“ (MDR), die seit zwölf Jahren immer wieder neue Fans findet, ist dem Kika zudem ein echter Dauerbrenner gelungen.
Der 1997 gestartete Kinderkanal ist der Qualitätsmaßstab, an dem sich frei empfangbare Kindersender wie Super RTL (gehört zu je 50 Prozent Disney und RTL) oder Nickelodeon (gehört zur MTV-Familie und damit zum US-Konzern Viacom) messen lassen müssen. Deren Programm besteht zwar überwiegend aus Kaufproduktionen, doch auch die erfüllen einen gewissen Mindeststandard: In kaum einem Land der Welt sind Eltern derart kritisch, was den TV-Konsum ihrer Kinder angeht. Fragt man Väter und Mütter nach einem Beispiel für gutes Kinderfernsehen, nennen neun von zehn allerdings den Klassiker schlechthin, die „Sendung mit der Maus“; und der zehnte vermutlich „Löwenzahn“.
Beide finden sich naturgemäß eher in den Hitlisten kleinerer Kinder. Dass die „Top 50“ der meist gesehenen Sendungen dennoch eindeutig von Kindersendungen dominiert werden, mag wie eine Binsenweisheit klingen, ist aber keineswegs selbstverständlich: Vor Jahren waren diese Listen geprägt von Titeln aus dem Erwachsenenfernsehen, allen voran „Wetten, dass..?“ und andere Shows, aber auch viele Fußballspiele; Sendungen also, die von der ganzen Familie gesehen werden. Dank der Kindersender ist der Anteil der Kindersendungen an der Fernsehzeit der jüngsten Zuschauer deutlich gestiegen: Noch 1993 betrug er bloß 25 Prozent, heute sind es 44 Prozent. In diesem Jahr werden zwar sicher auch einige WM-Spiele in der Bestenliste auftauchen, aber 2009 war die Übersicht fest in Kika-Hand. Gerade mal eine Handvoll RTL-Sendungen hat es in die „Top 50“ geschafft, dabei neben mehreren Ausgaben der Castingshow „Das Supertalent“ vor allem Kinofilme für die ganze Familie („7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug“, „Nachts im Museum“). Der Rest ist vor allem „Unser Sandmännchen“ (Fotos); der Klassiker ist mit regelmäßig über 40 Prozent der Marktanteile mehr als zwanzig Mal vertreten.
In einem Fernsehmarkt mit einem Dutzend Kindersender (wenn man Pay-TV-Angebote wie den Disney-Channel oder Junior sowie die digitalen Angebote der Kabelnetzbetreiber mit einbezieht) ist das eine durchaus stolze Leistung für den Kinderkanal. Selbst ohne die digitale Konkurrenz ist der Markt kaum noch überschaubar: Seit dem erneuten Sendestart von Nickelodeon im September 2005 werden im frei empfangbaren Fernsehen weit über 400 Stunden Kinderfernsehen pro Woche geboten. Das Gros des Programms stammt von Nickelodeon (126 Stunden), Kika (105 Stunden) und Super RTL (95 Stunden), der Rest größtenteils von ARD und ZDF (nur am Wochenende) sowie Kabel 1 und RTL 2. Marktführer 2009 war Super RTL (20,4 Prozent) vor dem Kika (16,1 Prozent). Nickelodeon folgt mit 9,4 Prozent. Übrigens hat die Programmvermehrung nicht dazu geführt, dass Kinder dem Fernsehen heute deutlich mehr Zeit widmen als früher: Der Wert bewegt sich seit 15 Jahren zwischen 90 und 100 Minuten.
Obwohl es also offenbar keinen Grund zur Klage gibt, sieht Gert K. Müntefering keinen Grund, zur Tagesordnung überzugehen. Der pensionierte Vater der „Sendung mit der Maus“ (WDR) und Kika-Initiator spricht gar vom „Verschwinden des Kinderfernsehens“. Er denkt dabei in erster Linie an die gesellschaftliche Öffentlichkeit, in der dieser Teil des TV-Programms keinerlei Spuren hinterlasse: „weil Kinderfernsehen weder als Beitrag zur Kultur noch zum Konsum betrachtet wird“. Der frühere Leiter der WDR-Tagesprogramme fordert vom Kinderfernsehen mehr Initiative, um endlich auch wieder inhaltlich wahrgenommen zu werden. Sein Vorschlag: „Der Kika bleibt das Programm fürs Bewährte, inklusive der Aufforderung, dieses Bewährte immer wieder in Frage zu stellen. Die Kinderfernseh-Budgets von ARD und ZDF hingegen werden gezielt dafür eingesetzt, mit innovativer Kraft eine auf kleine Fläche konzentrierte Entwicklung zu betreiben“.
Münteferings Nachfolger beim WDR, Siegmund Grewenig, reagiert reserviert: „Dass früher alles besser war, ist bekannt, aber nicht richtig“. Öffentliche Diskussionen „galten nicht der herausragenden Qualität der Programme, sondern den Tabuverletzungen, weil zum Beispiel mit den ‚Teletubbies’ erstmals Kleinkinder angesprochen wurden“. Sendungen wie die mit einer Lobenden Erwähnung beim Robert Geisendörfer Preis bedachten WDR-Kindernachrichten „neuneinhalb“ seien ein Beleg für die ungebrochene Qualität des Kinderfernsehens.
Das stimmt natürlich, und gerade ARD und ZDF können ihr Engagement in dieser Hinsicht nachdrücklich und täglich belegen. Gerade die ZDF-Kindernachrichten „logo!“ waren vielleicht noch nie so wertvoll wie heute. Die Sendung veranschaulicht Tag für Tag, wie sich Kindheit im Lauf der Jahrzehnte verändert hat: weil die Zielgruppe „immer früher älter wird“, wie Eva Radlicki feststellt. Sie gehört zu den Frauen der ersten Stunde. 1988 war sie Praktikantin, heute ist sie beim ZDF-Kinderfernsehen nicht nur für „logo!“, sondern auch für die anderen Informationsangebote („Löwenzahn“, „pur+“, „Stark!“) verantwortlich. Deshalb kann sie naturgemäß auch der allgemeinen Verblödungs-Theorie nicht zustimmen: „Heute wissen die Kinder viel mehr. Und sie denken ganz anders, viel vernetzter. Wenn sie was nicht wissen, wissen sie zumindest, wo sie danach suchen müssen“. Und Kinder haben ein Recht darauf, informiert zu werden. Die Frage nach einem Schonraum, die vor zwanzig Jahren noch diskutiert wurde, hat sich in der heutigen Welt erledigt; Kinder erfahren es ohnehin, wenn etwas passiert, und dann ist es gut, dass die Ereignisse kindgerecht aufbereitet werden. „logo!“ (Kika 19.50 Uhr) hatte 2010 bislang täglich im Schnitt gut 250.000 Zuschauer (Marktanteil: 16,4 Prozent).
Gert K. Müntefering ist allerdings nicht der einzige Kritiker. Stefan Aufenanger (Universität Mainz) fordert vom Kinderfernsehen einen stärkeren „Lebensweltbezug“ zum Alltag der jungen Zuschauer. Der Erziehungswissenschaftler übt konkrete Kritik an „logo!“ und auch an „neuneinhalb“, den Nachrichten vom WDR (ARD, samstags, 8.30 Uhr und 11 Uhr). Laut seinen Forschungen seien die Kinder oftmals überfordert und könnten schon kurz nach der Sendung Fragen nach den erklärten Begriffe nicht mehr beantworten. Dennoch erhielten gerade ARD, ZDF und der von beiden gemeinsam veranstaltete Kinderkanal in einer entsprechenden Untersuchung Aufenangers beste Noten, weil Privatsender wie Super RTL oder Nickelodeon keinerlei vergleichbare Sendungen produzierten.
Langjährige Beobachter sehen das Kinderfernsehen ohnehin in einer Krise, und zwar finanziell wie auch kreativ. Kronzeuge dieser These ist David Kleeman, Präsident des American Center for Children and Media (Chicago). Allein in Großbritannien ist die Produktion von Kindersendungen laut Kleeman wegen der strengeren Werberichtlinien um fast 40 Millionen Pfund eingebrochen. Tatsächlich hat der kommerzielle Sender sein Kinderprogramm praktisch abgeschafft. Auch andernorts, etwa in den USA, sieht Kleeman finanzielle Bedrohungen für das Genre. Die Erfahrung habe gelehrt, dass anspruchsvolle Sendungen meistens zuerst dran glauben müssten.
Für Maya Götz, beim Bayrischen Rundfunk Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI), hat sich diese Entwicklung bereits in den Neunzigern angedeutet: „Durch die Kommerzialisierung gab es damals eine Trennung von Erwachsenen- und Kinderfernsehkulturen“. Das habe durchaus Vorteile gehabt: „Das Kinderprogramm ist seither weitaus attraktiver und kindgerechter geworden“. In Zeiten enger Ressourcen sei es aber „eine Frage der Macht, wem wie viel Raum und Geld zugestanden wird“. Eine der Bedrohungen für das Kinderfernsehen sieht Götz im Internet, allerdings weniger als Konkurrenzmedium: „Menschen, die sich für den Themenkomplex Kinder und Medien interessieren, konzentrieren ihr Engagement mittlerweile fast ausschließlich auf Computerspiele und Internet“. Dabei widmeten Kinder den vergleichsweise jungen Medien bei weitem nicht so viel Aufmerksamkeit, wie suggeriert werde: „Zeitlich und in seiner Bedeutung hinkt das Internet dem Fernsehen noch weit hinterher, und das wird sich in den nächsten Jahren auch nicht so schnell ändern“.
Wie Müntefering, so warnt auch Maya Götz davor, das Kinderfernsehen komplett aus den Vollprogrammen zu verbannen. Stattdessen sollte es bei ARD und ZDF, auch dies im Sinne Münteferings, viel mehr Angebote für die ganze Familie geben: „Schon jetzt verbringen Kinder rund zwei Drittel ihrer Fernsehzeit alleine. Aus pädagogischer und gesamtgesellschaftlicher Sicht sollte diese Zahl dringend vermindert werden“. Der Kika sei zwar schon allein wegen seiner Verlässlichkeit unverzichtbar, aber „das bedeutet keinesfalls, dass die Vollprogramme ihre Verantwortung für diese wichtige Bevölkerungsgruppe weitgehend dorthin delegieren können“. Die IZI-Leiterin hat bei ihrer Argumentation keineswegs bloß die Zielgruppe im Blick: „Es würde den Erwachsenen gar nicht schaden, die Energie der Kinder und ihre Perspektiven stärker wahrzunehmen. Wir sollten alle viel öfter Sendungen für und über Kinder sehen“.
Seit auch die dritten Programme ihre „Kinderstunde“ eingestellt haben, ist das Radio wochentags das letzte Refugium der ARD-Sender für Kinder. Fast alle Mitglieder des Senderverbunds haben eigene Angebote für Kinder (Übersicht unter www.ard.de/kinder). Im Gegensatz zum Fernsehen, wo der Kika quasi ein Monopol auf die Meinungsführerschaft besitzt, gibt es im Hörfunk Konkurrenz: Zum Beispiel das werbefreie Programm von Radijojo. Es wird von einer 2003 in Berlin gegründeten gemeinnützigen GmbH produziert und ist über einige UKW-Sender, via Satellit und natürlich als Webradio zu empfangen (www.radijojo.de). Das Credo des Senders – „spannendes, fröhliches, gewaltfreies und pädagogisch sinnvolles Programm für Kinder von 3 bis 13 und für alle Eltern“ – könnte auch vom Kika stammen. Ein vergleichbarer Ansporn im Fernsehbereich würde dem Kindersender möglicherweise gut tun. Konkurrenz belebt erfahrungsgemäß das Geschäft, aber in Sachen Information ist der Kika konkurrenzlos.