Geht das klassische Musikfernsehen seinem Ende entgegen?
MTV, vor 30 Jahren Vorreiter des Musikfernsehens, ist seit Anfang Januar im Pay-TV verschwunden. Dass der einstige Konkurrent VIVA die Lücke schließen kann, erscheint zweifelhaft.
„I want my MTV“, Ich will mein MTV – der Song der Dire Straits „Money for Nothing“ lieferte vor 30 Jahren den Soundtrack zum Erfolg von Music Television, der Mutter aller Musikkanäle. Es war die Blütezeit der Musikvideos. Kaum eine Band, die auf sich hielt, konnte es sich leisten, auf dieses Promotionsinstrument zu verzichten. Der Sender als Plattform und Abspielkanal für die Erzeugnisse der Musikindustrie. Plattenfirmen und Künstler profitierten von einem ebenso simplen wie einträglichen Geschäftsmodell. Schnell erlangte der Sender Kultstatus. In den Anfangsjahren galt MTV geradezu als Hort von Anarchie und Größenwahn, verkörpert durch schrille Clips und schräge Moderatoren. Eine Videoproduktion wie Michael Jacksons „Thriller“ schlug schon mal mit einer Million Dollar zu Buche.
Dann kam das Internet, und die kostenlosen Abspielspielkanäle für Musikvideos vervielfachten sich. Schleichend büßte MTV seine Funktion als Pfadfinder im Produktionsdschungel der Musikindustrie ein. Seit dem 1. Januar ist MTV ausschließlich als Premium TV-Paket bei diversen großen Plattformbetreibern wie Kabel Deutschland, Sky Welt Extra oder per Lifestyle-Paket der Deutschen Telekom erhältlich. Was MTV im Werbetrailer als „einzigartige Inhalte“, als „unglaubliche Ideen, die uns zu Trendsettern machen“, zu verkaufen versucht, markiert in Wirklichkeit den Abgesang auf das klassische Musikfernsehen.
Tim Renner, Ex-Deutschland-Chef des Musikmajors Universal, heute Betreiber des Labels Motor Music, sieht die Flucht ins Pay-TV denn auch eher als ein „Zeichen von Abschied“, als Eingeständnis, dass letztlich keine überzeugende Antwort auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters gefunden werden konnte (Interview S. 26–27).
Video killed the Radiostar – mit diesem Song der Buggles gab MTV seinerzeit den Startschuss ins Musik-TV-Zeitalter. Heute müsste der Slogan wohl eher lauten: Internet killed the Videostar. Das Netz liefert dem Musikliebhaber nahezu unerschöpfliche Möglichkeiten, sich über aktuelle Trends der Musikszene zu informieren, zeitsouverän und natürlich kostenlos. Ob Youtube, MySpace oder MyVideo, ob tape.tv, Putpat TV oder auch Tim Renners Motor TV – längst haben große Internetplattformen oder ambitionierte Web-TV-Sender MTV den Rang abgelaufen.
Der einstige Pionier des Musikfernsehens dagegen hatte sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr auf die Ausstrahlung billiger Promi- und Datingshows verlegt. Oder das auf allen Kommerzkanälen grassierende Casting-Fieber befeuert. Das gilt auch für den einstigen Konkurrenten VIVA. Die 1993 vom umtriebigen Musikmanager Dieter Gorny gegründete deutsche Antwort auf MTV war 2004 vom US-Konzern Viacom geschluckt worden.
Mit einschneidenden Folgen für’s Programm. Beliebte deutsche Eigenproduktionen wurden durch US-Formate ersetzt. Kultmoderatoren wie Stefan Raab, Heike Makatsch oder Sarah Kuttner machten anderswo Karriere. An ihre Stelle traten Quasselstrippen wie Gülcan oder Collien, die marktschreierisch anbiedernd die immer gleichen Bands für die überwiegend weibliche Teenie-Gemeinde ansagten.
Offenbar um die Fans nicht vollends zu verprellen, wird ein Teil der erfolgreichsten MTV-Formate künftig beim Schwestersender VIVA weiterhin kostenlos ausgestrahlt. VIVA soll im Rahmen der neuen Arbeitsteilung bei den MTV Networks künftig als zentraler Musik- und Entertainmentkanal im Free-TV fungieren. Ob MTV mit der neuen Strategie verlorenen Boden wieder gutmachen kann, halten Experten mit Blick auf versprochene „einzigartige Inhalte“ für eher unwahrscheinlich.
Einige Musikformate wie der „MTV Breakfast Club“ oder die „New Video Charts“ wurden – wie es heißt – kreativ überarbeitet. Als neue Show-Highlights preist der Sender US-Formate wie „Death Valley“, „Paris Hiltons BFF Dubai“ und „16 & Pregnant“ an. Das Ganze wird angereichert mit bewährten Kultklassikern wie „Pimp my Ride“, „The Osbournes“ und „Jackass“. Für Tim Renner ein Menü, das ein wenig an „Prekariatsfernsehen, nur halt auf jung“ erinnert, wie es bisweilen von Late-Night-Talker Harald Schmidt karikiert wird.
In der Gruppe der 14–29jährigen verfügte MTV zuletzt über einen Marktanteil von immerhin 1,8 Prozent. Ob diese Klientel unter den neuen Konditionen gehalten werden kann, erscheint zweifelhaft. Immerhin handelt es sich um den ersten ernsthaften Versuch eines etablierten Senders, sein Geschäftsmodell von Werbefinanzierung auf ein Bezahlangebot umzustellen. Angesichts des dauernden Siechtums von Murdochs Sky Television und dem umfangreichen hiesigen Free-TV-Angebot bedarf es schon einer gehörigen Portion Optimismus, an einen Erfolg des Experiments zu glauben. Bereits in den neunziger Jahren scheiterte ein Versuch, MTV als kostenpflichtiges Satellitenprogramm zu vermarkten.
Nicht wenige Mitglieder der bisherigen MTV-Gemeinde reagierten jedenfalls erbost auf den neuen Geschäftskurs. „Eine bodenlose Frechheit“ oder „bin extrem angepisst“ – so einige der harmloseren Kommentare. Ein weiterer enttäuschter Liebhaber prognostizierte: „Ein Jahr, dann sind die pleite oder wieder öffentlich zu empfangen.“