Recht auf Vergessen

Gesetzgeber gefordert: Schlichtungsstelle nach Google-Urteil unabdingbar

Das „Recht auf Vergessen” ist seit dem Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs in den Mittelpunkt der medienrechtlichen Diskussion gerückt. Wurde die EuGH-Entscheidung zunächst allgemein begrüßt, werden zunehmend Zweifel laut, dass der Datenschutz einseitig zulasten von Meinungs- und Pressefreiheit erweitert wird. Die Bedenken sind teilweise berechtigt. Gefordert ist der Gesetzgeber.

Rüdiger Lühr Unser Autor Rüdiger Lühr ist freier Journalist in Hamburg. Er engagiert sich als Mitglied der Print-Tarifkommissionen vor allem für die Honorare von Freien. Er ist Sprecher der dju-AG Urheberrecht und Mitglied der ver.di-Bundeskommission Freie. Foto: Christian v. Polentz
Rüdiger Lühr
Unser Autor Rüdiger Lühr ist freier Journalist in Hamburg. Er engagiert sich als Mitglied der Print-Tarifkommissionen vor allem für die Honorare von Freien. Er ist Sprecher der dju-AG Urheberrecht und Mitglied der ver.di-Bundeskommission Freie.
Foto: Christian v. Polentz

Das allgemeinen Persönlichkeitsrecht und die Meinungsfreiheit sind Grundrechte, verankert im Grundgesetz und in der Europäischen Grundrechtecharta. Im Fall von Grundrechtskonflikten entscheiden die zuständigen Gerichte, so der EuGH nun am 13. Mai 2014. In seinem richtungsweisenden Urteil konstatiert er ein „Recht auf Vergessenwerden”, ausgehend von der Grundrechtecharta und der EU-Datenschutzrichtlinie von 1995.
Neu erfunden hat er dieses Recht nicht. Weil persönliche Daten im Internet, einmal eingestellt, immer weiter gespeichert, gespiegelt und damit quasi nicht rückholbar sind noch weltweit gelöscht werden können, wird über ein „Recht auf Vergessen” schon einige Zeit diskutiert. EU-Justizkommissarin Viviane Reding nannte Anfang 2012 dieses Recht den Kernpunkt ihrer Vorschläge für die neue EU-Datenschutzverordnung. Und schon vorher brachte CSU-Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner einen „digitalen Radiergummi” ins Spiel.

EuGH: Suchmaschinen haften

Im Verfahren „Google Spain SL, Google Inc./Agencia Española de Protección de Datos, Mario Costeja González” (Rechtssache C-131/12) ging es eigentlich um die „Verantwortlichkeit” von Suchmaschinen bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen, also um die Haftung. In diesem Punkt ist „die Entscheidung des EuGH ersichtlich davon beseelt, seine Aufgabe des Grundrechtsschutzes auch gegenüber wirtschaftlichen Interessen ernst zu nehmen und den europäischen Grundrechten inhaltliche Durchschlagskraft zu verleihen”, begrüßt Bundesverfassungsrichter Johannes Masing das Urteil, das er ansonsten in vielen Punkten zurecht kritisiert.
So stellt der EuGH klar, dass Suchmaschinen dem Recht der Europäischen Union und seiner Mitgliedstaaten unterworfen sind, unabhängig davon, wo ihre Server stehen. Der Gerichtshof sieht in ihnen auch nicht wie zuvor sein Generalanwalt lediglich eine Art von Caches, sondern versteht Suchmaschinen als eigene Form der Datenverarbeitung, für die folglich deren Betreiber verantwortlich (haftbar) sind.
Damit begründet der EuGH, dass die Nachweise in Suchergebnissen sich am Recht der informationellen Selbstbestimmung und an den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und Schutz personenbezogener Daten messen lassen müssen. Betroffene können also ein Recht auf Löschung oder Nichtanzeige von Suchergebnissen geltend machen. So hat auch schon der Bundesgerichtshof zur Google-Suche entschieden.
Die Verantwortlichkeit des Suchmaschinenbetreibers besteht nach dem EuGH-Urteil darin, dass dieser unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet ist, von der Ergebnisliste, die nach einer Namenssuche angezeigt wird, Links zu den von Dritten veröffentlichten Internetseiten mit Informationen über diese Person zu entfernen. Dies auch, so der EuGH, wenn der betreffende Name oder die betreffenden Informationen auf diesen Internetseiten nicht gelöscht werden und wenn die Veröffentlichung dort rechtmäßig ist.
Damit geht der EuGH auch explizit auf die Pressefreiheit ein, denn Ausgangspunkt des Verfahrens war zunächst die Klage eines Spaniers gegen zwei Berichte der spanischen Tageszeitung La Vanguardia von 1998 im Internet. Er stellt unmissverständlich klar, dass die Bereithaltung dieser Artikel im Online-Archiv der Zeitung nicht rechtswidrig ist (so wie der BGH zu den Löschungsklagen im Fall der „Sedlmayr-Mörder”).

Vorrang für den Datenschutz?

An dem Urteil des Gerichtshofs werden aber zurecht zwei Kernpunkte kritisiert. Zum einen gewährt der EuGH dem Persönlichkeitsschutz grundsätzlich Vorrang gegenüber anderen Grundrechten. Bei der Frage, ob ein Suchmaschinenbetreiber Links löschen muss, „überwiegen die geschützten Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen gegenüber dem Interesse der Internetnutzer”, heißt es im Urteil. Nur in „besonders gelagerten Fällen” könne das öffentliche Interesse an der Auffindbarkeit von und dem Zugang zu Informationen vorgehen.
Durch diese einseitige Gewichtung zugunsten des Datenschutzes wird sowohl der Eingriff in das öffentliche Informationsinteresse weitgehend ignoriert als auch den betroffenen Medien jegliche Einflussmöglichkeit auf die Löschung von Links zu ihren Berichten genommen.

Löschung: Google entscheidet

Zum anderen weist der EuGH die Entscheidung, welche Links gelöscht werden, allein dem Suchmaschinenbetreiber zu. Berücksichtigt wird dabei weder, ob Google die nötige Beurteilungskompetenz hat, noch dass damit die Allmacht des US-Konzerns, die mit dem Urteil eigentlich begrenzt werden sollte, weiter vergrößert wird. Dass Google seine Suchergebnisse nach Geschäftsinteresse manipuliert, wird vermutet. Dass Google diese als politisches Druckmittel einsetzt, ist spätestens seit dem Konflikt um das verunglückte Presse-Leistungsschutzrecht klar.
Bei der zentralen Rolle, die Suchmaschinen im Internet bei der Erschließung von Medieninhalten spielen, bedeutet das einen nicht unerheblichen Eingriff in die Medienfreiheit. Und die Praxis, seitdem Google sein Löschformular Ende Mai online gestellt hat, macht das deutlich.

Links zu Artikeln gekappt

Mehr als 90.000 Löschanträge hat Google in den ersten zwei Monaten erhalten. In die Google-Entscheidungen, welche Links in der Suchmaschine gelöscht werden, sind die Betreiber der Webseiten, zu denen verlinkt wird, nicht einbezogen – egal ob es sich um Privatpersonen, Blogger, Zeitungs- oder Zeitschriftenhäuser handelt. Sie werden weder informiert noch haben sie eine Möglichkeit zur Löschung Stellung zu nehmen oder gar Einspruch einzulegen. Lediglich der Webmaster der jeweiligen Domain erhält von Google eine Nachricht über die Löschung.
Zu den ersten betroffenen Medien in Deutschland gehört Spiegel Online. Treffer zu sieben Artikeln hat Google bisher entfernt. Sucht man nach einem bestimmten Namen, taucht ein Artikel des Nachrichtenportals über Scientology nicht mehr auf. Betroffen sind ebenfalls die Tageszeitungen Neues Deutschland und taz, bei denen Links zu Artikeln über namentlich genannte Rechtsradikale gelöscht wurden.

Gesetzgeber muss handeln

Zur Heilung der Auswirkungen des Google-Urteils ist der deutsche Gesetzgeber gefordert. Hier darf man weder eine langjährige gerichtliche Klärung abwarten, noch auf eine Regelung in der EU-Datenschutzverordnung hoffen, denn die wird derzeit blockiert. Die Bundesregierung will nach einem Bericht des Handelsblatts zügig eine Schlichtungsstelle für Löschanträge bei Google einrichten. Das ist der richtige Weg.
Bei der Entscheidung über Löschanträge gilt es eine verlässliche Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsschutz und dem Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu Informationen im Internet zu finden. Dabei geht es für Journalistinnen und Journalisten auch um die Medienfreiheit, zu der neben der Auffindbarkeit ihrer Berichte im Netz auch eine verlässliche Recherche in Suchmaschinen gehört. Eine allein an den Interessen des Daten- und Verbraucherschutzes ausgerichtete Tätigkeit und Besetzung dieser Schlichtungsstelle würde dies nicht gewährleisten.

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