Tageszeitungen im Osten: Vielfalt ging schnell wieder flöten

Überlebt haben nur die „Großen“

„Es ist, als habe einer das Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren der Dumpfheit, des Miefs“, sagte Stefan Heym im Wendeherbst 1989. So erlebten es auch viele der rund 11000 Journalisten, die bei den DDR-Printmedien beschäftigt waren: Mit dem Sturz des DDR-Regimes erhofften sie sich Vielfalt statt sozialistischem Einheitsbrei, Pressefreiheit statt staatlichem Diktat.

Kurz vor der Wende gab es in der DDR 39 Tageszeitungen, 30 davon waren regionale, 8 überregionale und es gab sogar eine Boulevardzeitung, die „BZ am Abend“, die im Raum Berlin verbreitet wurde. Die Gesamtauflage der Tageszeitungen betrug rund 10 Millionen – und das bei einer Bevölkerungszahl von 17 Millionen! Die größten Auflagenhöhen hatten die SED-Zeitungen mit insgesamt 6 Millionen, allein „Neues Deutschland“, das „Zentralorgan der SED“, erreichte täglich über eine Million Exemplare. Es erschienen 15 Bezirkszeitungen mit eigenen Lokalseiten. Auch andere Parteien besaßen „Zentralorgane“ und regionale Titel (wie z.B. die CDU die „Neue Zeit“ bzw. „Die Union“ in Leipzig). Die Blätter der sogenannten Blockparteien kamen allerdings auf vergleichsweise kleine Auflagen von höchstens 60000 Exemplaren. Beispiel Leipzig: Hier gab es vor der Wende neben den „Zentralorganen“ vier regionale Tageszeitungen, die von der SED, der CDU, der LDPD und der NDPD herausgegeben wurden.

Kurzer Aufschwung nach der Wende

Mit der Wende drängten die westdeutschen Zeitungsverlage auf den neuen Markt im Osten: Als erstes legten sie in grenznahen Gebieten östliche Beilagen bei und veröffentlichten Nebenausgaben. Die Zeitungen der SED und Blockparteien wurden aufgekauft und neue Zeitungen gegründet. So gab es kurzzeitig tatsächlich Vielfalt: Ende 1990 erschienen in den neuen Bundesländern ungefähr 42 Titel mit einer Gesamtauflage von 8,2 Millionen Exemplaren; sechs überregionale Zeitungen hatten eine Auflage von 1,5 Millionen, 36 Regionalzeitungen verkauften rund 6,7 Millionen Exemplare.

So besaß Leipzig im Sommer 1990 für kurze Zeit sieben lokal berichtende Abonnementzeitungen. Und was ist übrig geblieben von den Zeitungsprojekten, die kurz nach der Wende mit so viel Enthusiasmus, Energie und Einsatzvermögen ins Leben gerufen wurden? Im Abo lediglich die „Leipziger Volkszeitung“ (LVZ) mit einer Gesamtauflage von rund 323000 Exemplaren, zu DDR-Zeiten das „Zentralorgan der SED im Bezirk Leipzig“, die jetzt jeweils zur Hälfte dem Verlagshaus Madsack aus Hannover und dem Axel-Springer-Verlag gehört. Die Stadtausgabe der BILD kann den Verlust der Vielfalt nicht abfedern: Verschwunden sind die „Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten“, das „Sächsische Tageblatt“, die „Union“, die „Neue Presse – Zeitung für Sachsen und Sachsen-Anhalt“ und ihre Nachfolgerin „Neue Presse-Express“ sowie die erste deutsch-deutsche Zeitung „Wir in Leipzig“.

Und so wie an der Pleiße ist es durchgängig in der ehemaligen DDR gegangen: Die sogenannte „Wende“ überlebt haben nur die ganz Großen – und das sind die früheren SED-Blätter. Denn die Treuhand verhökerte die dicken Brocken, ohne die Rolle einer demokratischen Presse zu berücksichtigen: Mittlere Verlage kamen kaum zum Zuge, der Hauptteil ging an die großen westdeutschen Verlage – Burda, Gruner + Jahr, Springer und Bauer – so war bald die Pressekonzentration auch im Osten perfekt. Vielfalt ade!

Von westdeutschen Verlagen übernommen, zogen sich die alten Parteipostillen teilweise neue Mäntelchen über; so wurde u. a. aus der „Freiheit“, dem SED-Organ im Bezirk Halle, die „Mitteldeutsche Zeitung“ (Auflage rund 379 000), jetzt herausgegeben vom Kölner Zeitungszaren Alfred Neven DuMont. In Magdeburg übernahm der Heinrich-Bauer-Verlag die „Volksstimme“ (mit einer Auflage von rund 280000), in Dresden sicherte sich Gruner+Jahr die „Sächsische Zeitung“ (Auflage rund 367000), im thüringischen Suhl heißt das jetzt von „Süddeutscher Zeitung“ und SPD gemeinsam herausgegebene Blatt „Freies Wort“.

Die Alten sind auch die Neuen

Heute gibt es zehn Tageszeitungen weniger als vor der Wende – 29 sind übrig geblieben. Die kleinen lokalen Zeitungen, die nach der Öffnung und dem Fall der Mauer in den neuen Ländern durch etwa 60 kleinere und mittlere Zeitungsverlage aus dem Westen Deutschlands gegründet worden waren, hatten gegenüber den „Traditionsblättern“ keine Chance; die meisten von ihnen sind inzwischen dem Wettbewerb zum Opfer gefallen: Schon 1995 waren die 15 ehemaligen SED-Bezirkszeitungen wieder die führenden Regionalzeitungen in den neuen Ländern, die meisten in einer Alleinanbieterposition. Ihr Auflagenanteil an der Gesamtauflage aller Abonnementzeitungen in den fünf neuen Ländern beträgt über 90 Prozent.

Für Journalisten, die im Osten Deutschlands arbeiten, heißt das: Mit der freien Marktwirtschaft kamen die wirtschaftlichen Zwänge und damit der Abschied von der publizistischen Vielfalt.

Wie langweilig das Dasein als Abonnent in einem Einzeitungsbezirk ist, weiß man in Leipzig aus Erfahrung: Es ist jeden Tag zu spüren, dass die belebende Konkurrenz auf dem lokalen und regionalen Tageszeitungsmarkt fehlt. Die „Leipziger Volkszeitung“ genießt den Ruf, träge und eher konservativ zu sein. Sie prägt das Meinungsbild in der Stadt – auch wenn schnelle Nachrichten und investigativer Journalismus über weite Strecken fehlen. Und „Bild“ ist für viele keine echte Alternative. Wer etwas anderes will, der muss nach Berlin ziehen: Hier gibt es noch sechs Abo-Zeitungen…

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