Die 65. Ausgabe des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm DOK endete mit einer positiven Bilanz: Das bekanntermaßen fachkundige und interessierte Leipziger Publikum füllte die Säle und sorgte für Festivalstimmung wie vor Corona-Zeiten. Der Blick nach Osteuropa wurde weiter geschärft, Filme des kriegsbedingt abgesagten internationalen Kiewer Festivals für Menschenrechte „Docudays“ wurden in Leipzig gezeigt. Der Film „König hört auf“ erhielt den ver.di-Preis „für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness“.
DOK Leipzig ist das größte deutsche und eines der führenden internationalen Festivals für künstlerischen Dokumentar- und Animationsfilm sowie für interaktives Storytelling. Darüber hinaus ist es mit seinen umfangreichen DOK Industry-Angeboten seit vielen Jahren einer der wichtigsten Treffpunkte für Fachbesucher*innen aus aller Welt. Auffällig viele junge Menschen wollten in diesem Jahr Teil von DOK sein: „Wir haben es geschafft, eine neue Zuschauerschicht zu erreichen“, resümierte DOK-Chef Christoph Terhechte bei der traditionell langen Nacht der Preisverleihungen am 22. Oktober. Nach zwei Jahren Covid wurden die vorpandemischen Besucherzahlen zwar noch nicht wieder erreicht. Aber, so Terhechte, sei es „überwältigend“ gewesen, wieder in vollen Sälen zu sitzen. Auffallend waren die eng besetzten Reihen in den Festivalkinos auch bei den Screenings tagsüber. Dabei waren die Altersklassen absolut gemischt: Nicht nur studentisches Publikum strömte in die Kinos, sondern offenbar auch viele interessierte Menschen im fortgeschritteneren Alter.
Während der Festivalwoche waren insgesamt 255 Dokumentar- und Animationsstreifen internationaler Filmemacherinnen und Filmemacher zu sehen. 74 Filme traten in den unterschiedlichen Wettbewerben um die Hauptpreise, die Goldenen und Silbernen und Tauben, sowie um die weiteren Preise an.
Bewegende Filme aus der Ukraine und Osteuropa
Mit dem neuen Format „Panorama“ stärkt DOK den Schwerpunkt des Festivals auf Mittel- und Osteuropa weiter: „Wir sind zunächst ein Leipziger, ein ostdeutsches, ein deutsches Festival – anschließend kommt zunächst Mittel- und Osteuropa und dann die ganze Welt“, machte Festival-Chef Terhechte den Fokus fest. Das Leipziger Publikum schätzt diesen besonderen Blick in osteuropäische Länder wie Slowenien, Polen, die Tschechische Republik – und natürlich die Ukraine.
Das internationale Filmfestival für Menschenrechte „Docudays“ in Kiew musste wegen des Krieges verschoben werden. DOK Leipzig setzte Zeichen, indem es unter dem Titel „Spotlight on: Docudays UA 2022“ fünf Filme präsentierte, die derzeit in Kiew nicht gezeigt werden können. Weitere vier Filme aus der und über die Ukraine liefen in anderen Sektionen des Leipziger Filmfestivals. Die meisten von ihnen wurden vor dem 24. Februar 2022 fertiggestellt und zeigen ein Panorama der ukrainischen Gesellschaft kurz vor dem russischen Großangriff. Dennoch hat sich der Krieg in die Bilder eingeschrieben.
Gezeigt wurde unter anderem „Infinity According to Florian“ von Oleksiy Radynski, der vom zähen Kampf der Kiewer Zivilgesellschaft gegen skrupellose Immobilienmakler in der Zeit vor dem Beschuss der ukrainischen Hauptstadt erzählt. Hauptprotagonist ist der Allround-Künstler Florian Yiriev, der zu Sowjetzeiten ein ikonisches Gebäude in Gestalt eines Ufos geschaffen hatte – das „Institut für Information“. Als 90jähriger verteidigt Yiriev nun seine Utopie einer musikalischen Architektur für alle gegen die Umbaupläne eines gesetzlosen Geschäftsmannes und Trump-Verehrers. Ein beeindruckendes Duell um die Werte und die Zukunft seines Landes, das seit dem 24. Februar noch ganz andere Kämpfe zu führen hat.
Im Docudays-Programm lief auch der 80-Minüter „Boney Piles / Terykony“ von Taras Tomenko, in dem es um vergessene Kinder geht, die als Schrotthändler zwischen Schutthalden und zerschossenen Häusern unterwegs sind. Ihr Heimatort Torezk liegt im Donbass und seit 2014 nahe der Front. Die sensible Coming-Off-Age-Geschichte verdeutlicht, wie der Krieg nicht nur die Gebäude, sondern auch die Perspektiven vernichtet.
Im Rennen um den Publikumspreis siegte „Drei Frauen“ von Maksym Melnyk, der in Leipzig seine Weltpremiere feierte. Darin versucht der junge Filmemacher mit Humor, Geschenken und vollem Arbeitseinsatz, die Herzen seiner drei Protagonistinnen zu öffnen. Die sind so viel Zuwendung gar nicht gewöhnt, denn in ihrem verlassenen Bergdorf kräht schon lange kein Hahn mehr nach ihnen. Der Schauplatz des Films, das ukrainische Stuschyzja, liegt in den Karpaten im Dreiländereck zwischen Polen und der Slowakei.
Im Internationalen Wettbewerb Kurzfilm lief die Weltpremiere von „When Will the Winter of 2022 End?“ von Hanna Trofimova, einem sehr persönlichen Video-Tagebuch aus einem Kiewer Plattenbau, das im März 2022 beginnt. Es zeigt unmittelbar, wie der Krieg in die gewohnte Normalität einbricht und sie ersetzt. Die Autorin reflektiert über ihre Angst, ihre Katze und darüber, warum ihr ausgerechnet in diesem Moment klar wird, wohin sie gehört. Bewegende, verstörende 23 Minuten, die im Gedächtnis bleiben.
Aber auch russischen Künstler*innen bot DOK eine Bühne. So wurde beispielsweise „Dragzina“ von Nikita Shokhov und Masha Vorslav als Teil einer Ausstellung im Leipziger Museum für bildende Künste gezeigt. Darin wird thematisiert, wie die russische LGBTQI-Szene – Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans- oder intersexuell bezeichnen – auf ein zunehmend feindliches Klima innerhalb der Gesellschaft trifft.
Dokumentarfilmgeschäft im Umbruch
Das Geschäft mit Dokumentarfilmen steht vor großen Veränderungen, denn die Regionalisierung einerseits und die Internationalisierung andererseits werden vor allem von den Streamingdiensten getrieben. Es gibt weltweit ein international geprägtes junges Publikum, das aufwändig erzählte Dokumentarfilme und -serien liebt. Darauf reagieren inzwischen auch die traditionellen nationalen Anbieter mit ihren Mediatheken. Allerdings ist das breitere Publikumsinteresse nur dann vorhanden, wenn es sich um unterhaltsame und vielschichtig erzählte Dokus handelt. Um die Sehgewohnheiten zu bedienen, brauche es eine bestimmte Bildsprache, verbunden mit dem entsprechenden Aufwand und komplexeren Produktionsstrukturen, erklären die Produzenten Christian und Reinhardt Beetz im DWDL-Interview.
ver.di-Preis für Porträt von Jenaer Jugendpfarrer
„Der Film ermöglicht einen authentischen Einblick in das Leben eines Menschen, der Demokratie lebt, der unermüdlich für ein Miteinander und gegen Rechtsradikalismus kämpft – mit jungen Menschen im Umfeld seiner Gemeinde, die er dafür begeistert, unabhängig davon, ob sie an Gott glauben oder nicht. Der Film ist ein Weckruf, eine Aufforderung an uns alle und stellt die Frage, warum wir nicht da sind, wo wir sein könnten“, so die Begründung der dreiköpfigen ver.di-Jury für die Vergabe des mit 1.500 Euro dotierten Preises „für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness“ an Tilman König für seinen Film „König hört auf“. Der Autor porträtiert im Film seinen Vater, den Jenaer Stadtjugendpfarrer Lothar König, der zu DDR-Zeiten von der Stasi überwacht worden war und sich seit der Wende gegen Rechtsextremismus engagiert. Die nimmermüde politische Arbeit, die Sozialarbeit mit Migrant*innen und seine Rolle als Pastor gehören ebenso zu seiner Natur wie die Wut und das stete Nerven seines Umfelds… König passt eben in kein System. Das Filmporträt ist die kritische Würdigung eines streitbaren Charakters, der sich mit der Pensionierung neu erfinden muss. Auch der „Filmpreis Leipziger Ring“ für einen hervorragenden Dokumentarfilm über Menschenrechte, Demokratie oder bürgerschaftliches Engagement, gestiftet von der Stiftung Friedliche Revolution (2.500 Euro) ging an „König hört auf“.
Goldene Tauben für zwei Debütfilme
Den Hauptpreis des DOK-Festivals erhielt der Kolumbianer Theo Montoya. Für seinen Debütfilm „Anhell69“ wurde er mit der mit 10.000 Euro dotierten Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb langer Dokumentar- und Animationsfilm geehrt. Die Koproduktion aus Kolumbien, Rumänien, Frankreich und Deutschland porträtiert eine junge, queere Generation im von Gewalt und Repression geprägten Kolumbien. Der Film erzählt eine ganz reale Geistergeschichte in stimmungsvollen Bildern.
Im Deutschen Wettbewerb wurde die Filmemacherin Sönje Storm für „Die toten Vögel sind oben“ mit der Goldenen Taube (3.000 Euro) ausgezeichnet. In ihrem ersten langen Dokumentarfilm öffnet Storm den Nachlass ihres Urgroßvaters, des Landwirts und Naturkundlers Jürgen Friedrich Mahrt. Er dokumentierte mit Hilfe von Fotografie und Taxidermie die lokale Flora und Fauna und beobachtete dadurch schon im frühen 20. Jahrhundert das Artensterben sowie Vorboten der heutigen Klimakrise.
2023 wird DOK Leipzig vom 8. bis 15. Oktober stattfinden – und soll nach Angaben der Veranstalter „noch größer werden“. Das beziehe sich nicht auf die Quantität der Filme, sondern der Besucher*innen: Geplant sei unter anderem, mehr Spielorte im Programm aufzunehmen, um mehr Möglichkeiten für eine Teilnahme am Festival zu schaffen, so DOK-Chef Terhechte.
Eine Auswahl der diesjährigen DOK-Gewinnerfilme ist bis 30.10. deutschlandweit online verfügbar, darunter sechs Preisträgerfilme von Goldenen und Silbernen Tauben. Zur Filmauswahl des Streaming-Angebots: DOK Stream 2022
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