Technik – Segen oder Fluch?

Betrachtungen zur 50. Internationalen Funkausstellung IFA 2010

1985 war alles ganz anders. Die Internationale Funkausstellung litt unter Besucherschwund. Im fernen Kreuzberg erzielte die „Internationale Bild- und Tonstörung“, eine medienkritische Aktionswoche alternativer Medien- und Kulturgruppen, mit immerhin einigen Tausend Besuchern einen Achtungserfolg in Sachen „Gegenöffentlichkeit“.

Und im noch geteilten Berlin demonstrierten die Mediengewerkschaften zum Start des umstrittenen Kabelpilotprojekts phantasievoll gegen die sich anbahnende Kommerzialisierung des Rundfunks. Ein Vierteljahrhundert später, zum 50. Jubiläum der IFA dagegen scheint der Hype um die Glitzerwaren der Unterhaltungselektronikindustrie unter dem Funkturm heftiger und unkritischer denn je.

Stand im letzten Jahr noch das hochauflösende Fernsehen HDTV im Mittelpunkt des Interesses auf der IFA, bestimmen diesmal die Segnungen der dreidimensionalen Rezeption von TV-Signalen den fachinternen Disput. Weitere Trends: Heimvernetzung, die Verschmelzung von TV und Internet („Worldwide Wohnzimmer“) sowie die weiterhin expandierende mobile Mediennutzung. Dabei fällt auf, dass die Diskussion um neue TV-Normen oder andere Innovationen längst rein technisch geführt wird. Sie ist eine Angelegenheit von Experten. Der Laie versteht immer weniger, während der Fachmann sich nur noch selten wundert.
Die Wachstumsapologeten der Unterhaltungselektronikindustrie rühren wie gewohnt die Trommel, preisen die Innovationskraft der Branche. Denn um den Konsumenten sturmreif zu schießen, muss man ihm einen „Mehrwert“ anbieten. Der allerdings hat anders als bei Karl Marx rein gar nichts mit dem gesellschaftlichen Mehrprodukt zu tun, das der Lohnarbeiter durch seine Arbeit – unter Abzug des Wertes seiner Arbeitskraft und der eingesetzten Produktionsmittel – produziert. Hier geht es schlicht um Verkaufe. Kaum beginnt HDTV sich im öffentlichen Bewusstsein als Avangarde-Technologie durchzusetzen, wird mit dem 3-D-Fernsehen auch schon die nächste medientechnologische Sau durchs globale Dorf getrieben. Zwar hat die Branche in den vergangenen zehn Jahren mehr als 26 Millionen Flachbildfernseher in Deutschland verkauft. Aber in den Haushalten stehen immer noch geschätzte 25 Millionen alte Röhrengeräte. Ob mehr als ein Bruchteil dieser Haushalte sich in absehbarer Zeit für 3D entscheidet, erscheint eher zweifelhaft. Und das nicht nur, weil es an entsprechender Kaufkraft für die neue teure Technik mangelt. Es fehlen schlicht auch überzeugende Inhalte, mit denen der Couch-Potato die Notwendigkeit eines abermaligen Umstiegs plausibel gemacht werden könnte. Kaum ein deutscher TV-Sender, der schon den Mut hätte, ein entsprechendes Angebot zu entwickeln. Es wiederholt sich ein bekanntes Spielchen: Die Sender zögern, solange die technische Reichweite ihrer Produkte noch gering sind. Die Industrie bietet zwar Geräte an, diese sind aber noch nicht preisgünstig genug, um angesichts des Mangels attraktiver Inhalte die Konsumenten massenhaft zum Kauf zu stimulieren.

Schwindelgefühle

Zudem schließt sich der Zusatznutzen von 3D nicht ohne Weiteres. Anders als HDTV, das gestochen scharfe Bilder (und verbesserten Ton) liefert, ist die dritte Dimension am Bildschirm mehr als gewöhnungsbedürftig. Wer sich je eine3-D-Brille auf die Nase setzte, um das räumliche Erlebnis auszukosten, wird vermutlich auch von den unangenehmen Nebenwirkungen dieser Rezeptionsweise – z.B. Schwindelgefühle – ein Lied singen können. Im Kino jedenfalls sollen die Besucherzahlen von 3-D-Versionen eines Films bereits rückläufig sein.
Technikkritik im Sinne eines grundsätzlichen Infragestellens technologischer Entwicklungen findet darüber hinaus kaum noch statt. Dass wesentliche Impulse für HDTV in den USA vom Pentagon ausgingen, das den Einsatz unter anderem in den Frühwarnzentren und Radarstationen plante, der schärferen Bilder wegen – wo käme solches heutzutage zur Sprache? Gleiches gilt auch für einzelne 3D-Lösungen, etwas solche mit Laserlicht, die ebenfalls zum Teil für militärische Zwecke entwickelt wurden.
Woran liegt es, dass es eine wahrnehmbare medienkritische Öffentlichkeit in technologischen Fragen kaum noch gibt? Eine Erklärung könnte die desillusionierende Wirkung der normativen Kraft des Faktischen sein. Tatsächlich würde es reichlich uncool wirken, heute noch das Menetekel fortschreitender Verflachung der Medieninhalte durch kommerzielle Programmfluten oder die Gefahren des totalen Überwachungsstaats durch die Digitalisierung des Telefonnetzes an die Wand zu malen. Was nicht bedeutet, dass diese Gefahren nicht mehr existierten. Es bedarf aber schon einer weltumspannenden Geschäftsinitiative wie die von Google Street View, um wenigstens Spurenelemente der Debatte um „informationelle Selbstbestimmung“, wie sie in den achtziger Jahren von den Gegnern der Volkszählung ausgelöst wurde, wieder wach zu kitzeln. Wobei der engagierte Versuch einzelner, die angebliche Bedrohung der eigenen Privatsphäre zu stoppen, im seltsamen Kontrast steht zur Sorglosigkeit einer Generation von „digital natives“, die bei studiVZ, Facebook und anderen sozialen Netzwerken selbst intimste Details ihres Privatlebens freiwillig preisgeben. Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war.

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