Profit oder Meinungsfreiheit: Wem nutzt die eingeschränkte Mitbestimmung?
„Es gehört in die Mottenkiste, ist ein Kuriosum in Europa“, kommentierte Wolfgang Mayer bereits 2007 den Tendenzschutz in „M“. Im April 2010 hat das Bundesarbeitsgericht einen langjährigen Streit zwischen dem DuMont-Verlag und dem Betriebsrat unter Bezug auf den Tendenzschutz zugunsten des Verlags entschieden.
Doch entspricht der Tendenzschutz mit dem Ziel der Meinungs- und Pressefreiheit der heutigen Realität? „Nein“, sagt Siegfried Heim, ver.di-Tarifsekretär. Er will den Tendenzschutz, den die dju seit Jahrzehnten bekämpft, wieder auf das politische Tapet bringen.
Die „deutsche Besonderheit“ des Tendenzschutzes lasse sich Kollegen in anderen Ländern nur schwer erklären, schrieb Mayer, dju-Vertreter in den Europäischen und Internationalen Journalistenföderationen in seiner Kolumne zur inneren Pressefreiheit, die durch den Tendenzschutz zusätzlich gehemmt werde (M 4/ 2007). Im Mittelpunkt der Argumentation von Siegfried Heim, langjähriger Betriebsratsvorsitzender bei der Südwestpresse Ulm/ Neue Württembergische Zeitung Göppingen und jetzt im Bundesfachbereich Medien in Berlin tätig, steht nicht die innere Pressefreiheit, sondern in erster Linie die allgemeine Deklassierung Beschäftigter in Medienunternehmen als „Arbeitnehmer zweiter Klasse“ und damit letztlich auch die Gefahr für die äußere Pressefreiheit. Denn im Gegensatz zu anderen Unternehmen können die Betriebsräte in den sogenannten Tendenzbetrieben keinen Wirtschaftsausschuss bilden, sie erhalten keine Einblicke in Bilanzen oder Investitionspläne, in Outsourcing- oder Stilllegungspläne und sind bei Verhandlungen über Sozialpläne in einer viel schwächeren Position als die Betriebsräte in anderen Unternehmen. Bei Personalmaßnahmen, die Tendenzträger wie etwa Redakteure betreffen, werden sie nur unterrichtet, können aber nicht mitreden. Ähnliches gilt bei Schulungen.
Darauf hatte sich das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 20. April 2010 (AZ 1BR 78/08) bezogen. Als der Betriebsrat einem Photoshopkurs für Anzeigenredakteure im DuMont-Verlag widersprach, berief sich der Verlag darauf, dass diese nicht der Redaktion, sondern der Anzeigenabteilung angehörenden Mitarbeiter als unabhängig Texte schreibende, auswählende und redigierende Journalisten für Sonderveröffentlichungen Tendenzträger seien. Das Arbeitsgericht Köln folgte dieser Auffassung nicht. Das Landesarbeitsgericht Köln und das Bundesarbeitsgericht stimmten dieser Auslegung dagegen zu, da die betroffenen Anzeigenredakteure selbst und unmittelbar Texte des Verlags gestalten und damit der Tendenzverwirklichung dienlich sind.
Informationen verweigert
Dieses Urteil wird von juristischen Kommentatoren als Einzelfallentscheidung in dieser besonderen Situation der Anzeigenredakteure gewertet. Die Begründung des Urteils stand zum Redaktionsschluss noch nicht zum Nachlesen im Netz (www.bundesarbeitsgericht.de, Entscheidungen). Dass diese selbstständig arbeitenden Anzeigenredakteure nach den Buchstaben des Gesetzes Tendenzträger sind, bestreitet Siegfried Heim nicht. Er bestreitet, dass der Tendenzschutz heute noch zur Wahrung der Presse- und Meinungsfreiheit notwendig ist. Vielmehr stellt er fest, dass die Einschränkung der Mitbestimmung in Medienunternehmen die Medienkonzentration und Konzernbildung geradezu fördert und dadurch der Presse- und Meinungsvielfalt inzwischen eher abträglich geworden ist, sich somit in sein Gegenteil verwandelt hat.
Der Münchner Mediensekretär Bernd Mann bekommt die Folgen des Tendenzschutzes gerade besonders deutlich zu spüren: bei Burda mit Entlassungen, Hefteinstellungen und Redaktionszusammenlegungen bei den People-Magazinen oder den Abfindungsangeboten beim Vorzeigeheft Focus, bei der Süddeutschen Zeitung und der Abendzeitung mit Kündigungswellen. „Samt und sonders beharrt die Arbeitgeberseite auf dem Tendenzschutz, wenn es um wirtschaftliche Informationen geht“, ist Manns Fazit. „Auch der Süddeutsche Verlag, der früher sehr offen mit seinen Zahlen umging, hüllt sich seit der Übernahme durch die Südwestdeutsche Medien-Holding in Schweigen. Derzeit wird in Verlagen gern kryptisch auf die miserable Entwicklung verwiesen, allerdings ohne nachprüfbare Informationen auf den Tisch zu legen. Das schafft das Problem, die wirtschaftliche Situation der Verlage halbwegs zuverlässig beurteilen zu können. Ich rate deshalb dazu, sich nicht auf Verzichtsprogramme einzulassen, wenn nicht die Mindestanforderung dafür erfüllt ist, nämlich die Offenlegung der Zahlen und die Prüfung durch einen unabhängigen Sachverständigen.“ Als aktuelle Entwicklung hält der Mediensekretär fest: „Beliebtes und böses Spiel ist in den Verlagen neuerdings dieses: Der Betriebsrat wird mit der angeblich miserablen Lage des Verlags konfrontiert, zur Rettung desselben seien Kündigungen unabdingbar, für den Sozialplan stünden „X“ Euro zur Verfügung, alles müsse sofort (noch vor Information der Beschäftigten) verhandelt werden, sonst drohe die Insolvenz.“
Tendenzschutz als Mittel der Erpressung, weil Wirtschaftszahlen geheim bleiben. Eine nicht mehr zu akzeptierende und von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung überholte Einschränkung für die Mitbestimmung, unterstreicht Tarifsekretär Heim. Diese Ansicht teilt auch der dju-Bundessvorsitzende und Betriebsratsvorsitzende der Nordwest-Zeitung Ulrich Janßen. Er legt in seinen Betriebsratsschulungen den Kolleginnen und Kollegen nach wie vor den 2001 erschienenen Aufsatz des Leiters der damaligen IG-Medien-Rechtsabteilung, Helmut Platow, ans Herz: „Tendenzschutz als Anachronismus“ (Mitbestimmung, Zeitschrift der Hans-Böckler-Stiftung, 1–2/ 2001).
Ohne Vertretung im Aufsichtsrat
Platow sieht den 1920 im Betriebsrätegesetz eingeführten Tendenzschutz für Presseerzeugnisse als Konsequenz aus der Situation in der Weimarer Republik, als Zeitungen und Zeitschriften fast ausschließlich in Parteibesitz waren oder eine feste parteipolitische Ausrichtung hatten. Damit habe verhindert werden sollen, dass politische anders denkende Drucker und Setzer Einfluss auf die Ziele der Presseerzeugnisse nehmen konnten. In den heutigen Zeiten von Großkonzernen, die allein der Gewinnmaximierung folgen, sei dieser „Schutz“ obsolet geworden, schreibt Platow und bekräftigt Heim.
Durch den Tendenzschutz ist es möglich, dass ein DAX-Konzern wie Springer keine Arbeitnehmervertreter in seinem Aufsichtsrat dulden muss, denn der jeweils erste Paragraf des Mitbestimmungsgesetzes und des Drittelbeteiligungsgesetzes, in denen die Mitbestimmung in größeren Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktienbasis, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Genossenschaften geregelt werden, finden keine Anwendung bei Unternehmen der Meinungsäußerung nach Grundgesetz-Artikel 5 (Presse- und Meinungsfreiheit).
Diese ersten Paragrafen gelten übrigens auch nicht für Religionsgemeinschaften und ihre erzieherischen und karitativen Einrichtungen. Der Medienbereich ist also nicht der einzige Fachbereich, der in ver.di vom Tendenzschutzparagrafen 118 im Betriebsverfassungsgesetz betroffen ist. Denn §118 zählt „politische, koalitionspolitische, konfessionelle, karitative, wissenschaftliche und künstlerische Betriebe“ auf sowie Unternehmen, die der Berichterstattung oder Meinungsäußerung gemäß dem Artikel 5 des Grundgesetzes dienen. Betroffen vom Tendenzschutz sind also auch Angestellte bei Parteien, Erzieherinnen in konfessionellen Kindergärten und Pfleger in kirchlichen Krankenhäusern, Arbeitnehmer bei Wohlfahrtseinrichtungen, Schauspieler am Theater- und Angestellte bei Gewerkschaften.
Abschaffung gefordert
ver.di hat daher in seiner Satzung in §74,2 festgeschrieben: „Die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte werden durch den Tendenzschutz nicht berührt. § 118 des Betriebsverfassungsgesetzes findet keine Anwendung.“ Seit der Gründung von ver.di ist aus der alten dju- und IG-Medien-Forderung nach der Abschaffung des Tendenzschutzes beim zweiten Bundeskongress 2007 in Leipzig eine ver.di-Forderung geworden. Im angenommenen Antrag Q002 der Bundesfachbereichskonferenz 8 Medien, Kunst und Industrie heißt es, dass eine Kampagne in Zusammenarbeit mit den anderen betroffenen Bereichen wie den kirchlichen Gesundheits- und Sozialunternehmen dazu führen soll, diese überholte Vorschrift endgültig in die Geschichte eingehen zu lassen. Denn auch die Kirchenbeschäftigten sehen die in Artikel 140 der Weimarer Verfassung als Schutz gedachte Sonderstellung der Religionsgemeinschaften als nicht mehr zeitgemäß an, vor allem nicht in Unternehmen, wo, so die Begründung des Antrags, „das wirtschaftliche Gewinnstreben über die ideellen Zwecke gestellt wird.“