Beim 35. Internationalen Frauenfilmfestivals (IFFF) in Köln wurde über Ausschlüsse, Hierarchien und Machtstrukturen in der Filmbranche debattiert. All dies beeinflusse die Filmkultur ständig negativ, selbst wenn Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung als Grundpfeiler der Gesellschaft gelten, hieß es. Beim Schwerpunkt des Festivals vom 24. bis 29. April „Über Deutschland“ kamen Filmemacherinnen und Protagonistinnen zu Wort, die sonst oft geflissentlich übersehen werden.
Sind im Kulturbetrieb Frauen, „Coloured People“, Homosexuelle und sozial Benachteiligte aktiv dabei – oder sitzen in verantwortlicher Position immer noch hauptsächlich weiße, ältere Männer? Bei der beim IFFF geführten Debatte über sogenannte „Diversity Standards“ geht es um Vielfalt. Die Untersuchung darüber steckt in Deutschland in den Anfängen. Dass der freie Kulturbetrieb allen gleich zugänglich ist, sei eine irrige Annahme, konstatierte Sandrine Micossé-Aikins von „Diversity. Arts. Culture“. Seit 2017 führt das unter dem Namen firmierende und vom Berliner Senat finanzierte Projektbüro, bei dem sie arbeitet, Erhebungen, Bedarfsermittlungen und eine Grundlagenforschung durch, die „zum besseren Verständnis des Berliner Kulturbetriebs“ führen soll. „Wir müssen darüber sprechen, dass auch die Kunst ein kapitalistisches System ist, welches Menschen mit Gewalt raushält“, sagt sie. Wie beispielhaft in Großbritannien dazu geforscht wurde, erklärte Melanie Hoyes, die an einer Studie im Auftrag des BFI (British Film Institute) zur Geschichte des britischen Spielfilms arbeitet: In 10.276 im vergangenen Jahrzehnt entstandenen Filmen, die Untersuchungsgegenstand waren, gab es 230. 000 Mitwirkende: 75. 000 davon Frauen und fast doppelt soviele Männer, nämlich 155. 000. Von 3717 Regisseuren waren 343 weiblich, also neun Prozent. In Filmtiteln werde am häufigsten das Wort „man“ (Mann) verwendet. Zehn Jahre lang seien die meisten Rollen mit Weißen besetzt gewesen – in 59 Prozent der Filme sei keine einzige schwarze Person aufgetaucht. Dies wirke sich auch inhaltlich aus. Schwarze spielten in Filmen über Afrika mit, sowie meist in Gangster-, Drogensüchtigen- oder Sklaven-Rollen. In Lovestorys oder Filmen über das Geschäftsleben gebe es kaum Coloured-People.
Bestehende Strukturen aufbrechen
In Deutschland müsse es vor allem um Neugründungen völlig anderer Institutionen in der Branche gehen, forderte die Berlinerin Sandrine Micossé-Aikins beim IFFF. Viele seien überaltert, inhaltlich angestaubt. Jungen Menschen sei mitunter kaum mehr zuzumuten, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Inez Boogaarts, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der seit 2014 bestehenden Zukunftsakademie Nordrhein-Westfalen, begleitet dort Kultureinrichtungen. Die Welt verändere sich, konstatiert sie: Globalisierung, Migration, Flucht, demografischer Wandel, der Kulturbetrieb müsse sich dem anpassen. Sie plädierte dafür, bestehende Strukturen genau zu betrachten, sich einzumischen – und zur Vielfalt aufzufordern. Wie das denn vor sich gehen soll?, wollte eine Zuhörerin wissen. Soll ich in meine Bewerbung schreiben: „Ich bin lesbisch, habe schwarze Hautfarbe, komme aus einer Hartz IV-Familie?“ Wer aufgrund dessen eingestellt wird, werde sich wohl kaum beschweren, antwortete Melanie Hoyes.
Festival-Fokus „Über Deutschland“: Die Drehbuchautoren Liwaa Yazji und Mohamad Abu Laban, die in Syrien arabische täglich ausgestrahlte Fernsehserien konzipiert haben, verdeutlichten an der von ihnen geplanten Serie „Heim“: Wenn syrische Flüchtlinge hierzulande eine Fernsehserie zeigen wollen, wird es schwierig. Dabei repräsentierten beide Drehbuchautoren, was die Bundesregierung sich von Flüchtlingen erwarte, so die Kuratorin des IFFF Betty Schiel: „hochqualifiziert, erfahren und sie arbeiten hier“. Sie habe englische Literatur und Theater in Syrien studiert, er Philosophie und Theater. Doch ihre Fernsehserie über das Leben im Flüchtlingslager, sei beim ersten Produzenten nicht auf Gegenliebe gestoßen. Er kenne „sein“ Publikum, habe er gesagt: Seine Familie, seine Tante, etc… „Ja, will er denn kein neues Publikum hinzugewinnen, etwa türkische Migranten oder Araber, die lange im Land sind?“, staunten die Syrer. Weiterhin habe der Produzent befunden, arabische Ausdrücke hätten in der Serie nichts verloren, deutsch solle gesprochen werden. Die Serie spiele auch im Deutschkurs – „wie soll das gehen?“, hatten die Autoren eingewandt. Deutsche würden zunehmend mit verschiedenen Kulturen und Sprachen konfrontiert. Diese Realität müsse sich im Fernsehen wiederspiegeln. Nun ist die Serie für das Internet mit einem neuen Produzenten geplant.
Wie Integration gestaltet sein könnte…
Bei der szenischen Lesung von „Heim“ beim IFFF wurde ein spannender Konflikt geschildert: Wie ist es für einen Menschen arabischer Herkunft, wenn er unter Verdacht als Terrorist gerät? Ein von der Terrormiliz IS gezeichnetes Dokument wird bei einer Frau gefunden: Doch könnte sie nicht einfach nur Opfer geworden sein? Der deutsche „Heim-Direktor“ diskutiert dies mit der Klinikleiterin. Denn die Frau liegt aufgrund schwerer Erkrankung im Krankenhaus im Koma. Sollte man es ihr antun, die Polizei zu informieren, die Beobachtungsmaschinerie von Polizei und Geheimdienst alarmieren? Oder behält der „Heim-Direktor“ seine Beobachtung zunächst für sich? Aber könnte er dann nicht entlassen werden wie sein Vorgänger? Um internationale Charaktere geht es in der geplanten Serie: Um deutsche Beschäftigte der Unterkunft und Flüchtlinge unterschiedlicher Herkunft. Um Liebe, Sex und Alltag soll es gehen. Früher oder später werde „Heim“ zu sehen sein, vermutet Betty Schiel. Die prominente österreichische Schauspielerin Ursula Strauss scheint davon auch überzeugt. Sie las das Skript beim Festival.
Zu einem Gespräch mit den Filmemacherinnen Cana Bilir-Meier und Belit Sag werden deren Kurzfilme gezeigt, die auf außergewöhnliche Weise Zeitgeschehen dokumentieren – sehr kurze Werke. In der deutschen Filmkultur sind sie nicht angekommen, obgleich sie viel beizutragen hätten: Ihre eigene Meinung davon, wie Integration hierzulande gestaltet sein sollte.
Der Dokumentarfilm „Pierburg: Ihr Kampf ist unser Kampf“ von Edith Schmidt-Marcello und David Wittenberg verdeutlicht, wie Migrantinnen die Kultur des Arbeitslebens mitgeprägt haben: 1973 legten etwa 2000 Frauen, die meisten sogenannte Gastarbeiterinnen, Pierburg, einen der größten Zulieferbetriebe der Automobilindustrie in Deutschland, mit einem wilden Streik fünf Tage lang still. Die Leichtlohngruppe 2 wurde abgeschafft, der Lohn erheblich erhöht. Als Wortführerinnen entlassene Arbeiterinnen hatte der Betrieb wieder einstellen müssen. Das war eine der Streikforderungen. Beim IFFF diskutierten ehemals am Streik Beteiligte: die Griechinnen Sofia und Eftichia Athanassiadou (Mutter und Tochter), die Türkin Zeynep Gürsoy und die Deutsche Gabriele Koenen. „Nur wenn wir alle zusammenhalten, egal woher wir stammen, können wir gemeinsam weiterkommen“, sagte Zeynep Gürsoy unter großem Applaus. Im Fernsehen wurde der künstlerisch bemerkenswerte Film nie gezeigt.