„Der Ast, auf dem sie sitzen“ in M 03 / 2005
Kompliment! Da hat Volker Bräutigam den Finger in eine große, offene Wunde gelegt. Nach mehreren Generationen neoliberaler Selbst-Reproduktion an Lehrstühlen und Instituten scheint es manchmal auch im deutschen Blätter- und Antennenwald so, als gebe es nur noch die eine Wahrheit, über die man sich keine (und schon gar keine abweichenden!) Gedanken mehr zu machen habe.
Allzu oft wird nicht mehr über den Weg, sondern nur noch über die Beschleunigung der Schritte diskutiert. Wer es wagt, sich als „Ungläubiger“ zu outen, weil er bestreitet, dass es ein Naturgesetz sei, wonach sich die soziale Schere immer weiter öffnen müsse, um ein Land aus der Krise zu führen, der muss sich schon mannhaft verteidigen, um nicht als inkompetenter Ewig-Gestriger disqualifiziert zu werden.
Und doch: Es gibt Hoffnung auf eine wieder ausgewogenere Diskussion. Nach meiner Beobachtung wächst die Zahl der KollegInnen, die über ihr eigenes Tun und Schreiben ins Staunen und Stutzen kommen – zum Beispiel, wenn ihre eigene Zeitung plötzlich ohne zwingende Not mit ihnen selbst so verfährt, wie sie es zuvor über andere Arbeitnehmer berichtet hatten: Mehr arbeiten für weniger Geld und Sicherheit. Bei anderen scheint auch die schiere Langzeit-Beobachtung die Erkenntnisfähigkeit zu verbessern: Sämtliche Steuersenkungen und Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der letzten Jahre haben keine messbare Verbesserung gebracht, sondern nur zu immer neuen Nachforderungen geführt. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass es künftig in den Tinten- und Elektromedien verstärkt nicht nur Vor- und Quer-, sondern auch wieder Nach-Denker geben wird.
Wolfgang Wirtz-Nentwig
Saarländischer Rundfunk, Saarbrücken