Leserbrief: Den Finger in die Wunde gelegt

„Der Ast, auf dem sie sitzen“ in M 03 / 2005

Kompliment! Da hat Volker Bräutigam den Finger in eine große, offene Wunde gelegt. Nach mehreren Generationen neoliberaler Selbst-Reproduktion an Lehrstühlen und Instituten scheint es manchmal auch im deutschen Blätter- und Antennenwald so, als gebe es nur noch die eine Wahrheit, über die man sich keine (und schon gar keine abweichenden!) Gedanken mehr zu machen habe.

Allzu oft wird nicht mehr über den Weg, sondern nur noch über die Beschleunigung der Schritte diskutiert. Wer es wagt, sich als „Ungläubiger“ zu outen, weil er bestreitet, dass es ein Naturgesetz sei, wonach sich die soziale Schere immer weiter öffnen müsse, um ein Land aus der Krise zu führen, der muss sich schon mannhaft verteidigen, um nicht als inkompetenter Ewig-Gestriger disqualifiziert zu werden.

Und doch: Es gibt Hoffnung auf eine wieder ausgewogenere Diskussion. Nach meiner Beobachtung wächst die Zahl der KollegInnen, die über ihr eigenes Tun und Schreiben ins Staunen und Stutzen kommen – zum Beispiel, wenn ihre eigene Zeitung plötzlich ohne zwingende Not mit ihnen selbst so verfährt, wie sie es zuvor über andere Arbeitnehmer berichtet hatten: Mehr arbeiten für weniger Geld und Sicherheit. Bei anderen scheint auch die schiere Langzeit-Beobachtung die Erkenntnisfähigkeit zu verbessern: Sämtliche Steuersenkungen und Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der letzten Jahre haben keine messbare Verbesserung gebracht, sondern nur zu immer neuen Nachforderungen geführt. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass es künftig in den Tinten- und Elektromedien verstärkt nicht nur Vor- und Quer-, sondern auch wieder Nach-Denker geben wird.

Wolfgang Wirtz-Nentwig
Saarländischer Rundfunk, Saarbrücken

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Klimaprotest erreicht Abendprogramm

Am 20. August 2018, setzte sich die damals 15jährige Greta Thunberg mit dem Schild “Skolstrejk för Klimatet“ vor das Parlament in Stockholm. Das war die Geburtsstunde von Fridays for Future (FFF) – einer Bewegung, die nach ersten Medienberichten international schnell anwuchs. Drei Jahre zuvor hatte sich die Staatengemeinschaft auf der Pariser Klimakonferenz (COP 21) völkerrechtlich verbindlich darauf geeinigt, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.
mehr »

Fakten for Future

Menschen jeden Alters machen sich Sorgen um die Zukunft unseres Planeten. Carla Reemtsma ist Klimaschutzaktivistin und Mitorganisatorin des Schulstreiks Fridays for Future („Klimastreik“) in Deutschland. Als Sprecherin vertritt sie die Bewegung auch in der medialen Öffentlichkeit. Wir sprachen mit ihr über Kommunikationsstrategien, Aktivismus und guten Journalismus.
mehr »

Games: Welcome to Planet B

Die Bürgermeisterin muss sich entscheiden: Soll zuerst ein Frühwarnsystem vor Springfluten eingerichtet oder neue Möglichkeiten zum Schutz vor Hitze geplant werden? Und sollen diese neuen Schutzmaßnahmen besonders günstig oder lieber besonders nachhaltig sein? Was wie Realpolitik klingt ist ein Computerspiel. Denn immer mehr Games setzten sich auch mit Umweltthemen auseinander.
mehr »

Mit Perspektiven gegen soziale Spaltung

Die Berichterstattung über den Nahostkrieg zwischen Staatsräson und Menschenrechten ist heikel, denn die Verengung des Diskurses begünstigt einen Vertrauensverlust der Medien und die soziale Spaltung in Deutschland. Beides wird durch den politischen Rechtsruck befeuert. Grund genug, den medialen Diskurs genauer unter die Lupe zu nehmen.
mehr »