Leserbrief: Recherche in der Ein-Euro-Falle

„Ein-Euro-Jobs für Journalisten“ in «M» 09 – 10/05

 Beweiskräftig behaupte ich, Deutschlands erster Journalist und Autor zu sein, dem es gelang, als „fachlicher Anleiter“ in einer gemeinnützigen anerkannten Einrichtung sechzehn Monate über die sozialen Missstände im Umfeld der Ein-Euro-Jobs zu ­recherchieren. Ich hätte mich bis zur Pub­likation meines Buches bedeckt gehalten, wäre nicht in der M 09/10 2005 der Artikel „Ein-Euro-Jobs für Journalisten“ erschienen. Dieser hat mich dazu bewogen, einen ergänzenden Beitrag aus meiner Sicht zur Arbeit des Kollegen Mathias Thurm zu leisten.

Alle KollegInnen sollten die Entwicklung der Ein-Euro-Jobs in ihrem eigenen Inte­resse besonders aufmerksam verfolgen. Die Praxis zeigt inzwischen an Hand der Hamburger Medienpool e.V., dass auch unser Berufsstand nicht mehr davon ausgenommen ist. Äußerst bedenklich ist, dass dort aus Akademikern – dies trifft jedenfalls auf den überwiegenden Teil der JournalistInnen zu – billige Handlanger gemacht werden. Die dju-Hamburg ist gut beraten, das Objekt im Auge zu behalten und wenn möglich zu stoppen. … Ohne dem Kollegen Dr. Peter Müller unlautere Absichten zu unterstellen, sei mir die Feststellung erlaubt, dass seine Aktivitäten gegen das SGB II verstoßen und reguläre Arbeiten der Freien verdrängen. Warum sind, wenn er Schwerpunkte wie Wissenschaft- und Medizinjournalismus auf die Fahnen seiner Institution schreibt, nicht die zahlende Pharmaindustrie, Kliniken und Universitäten seine Klientel? Weiterbildungselemente in Einrichtungen wie der Medienpool dienen in erster Linie nur dazu, der Institution zusätzliche Finanzmittel des europäischen Sozialfonds zu sichern und die wöchentliche Arbeitszeit der ALG II Empfänger von 30 auf 38,5 Stunden zu erhöhen. …

Meine Erfahrung durch meine Recherche ist erschütternd. Von den Kommunen zwangsrekrutierte ALG II Empfänger sind dort nichts anderes als billige Leiharbeiter. Wurden sie, lange genug ausgebeutet, um durch ihre Arbeit feste Verträge bei den Kommunen und Behörden unter Dach und Fach zu bringen, erhält der eine oder die andere einen befristeten Arbeitsvertrag. Die Zahl der unter Vertrag arbeitenden ehemaligen Teilnehmer steht jedoch in diesen Institutionen in keinem Verhältnis zur Zahl der noch übrigen Ein-Euro-Kräfte. Kleine Unternehmen, darunter vor allem Handwerksbetriebe verlieren mehr und mehr Aufträge, die von den „gemeinnützigen“ zu Dumpingpreisen mit Kräften ohne fachliche Kompetenz ausgeführt werden. Zum fatalen Nachteil der Teilnehmer verdienen sie auch noch daran. Die Tatsache, dass Kommunen eine hemmungslose Ausbeutung der ALG II Empfänger praktizieren, ist inzwischen allerorts in der Öffentlichkeit zu erkennen. Gegenüber den Journalisten-Innen sind die betroffenen Behörden verschlossen, wenn es an das Eingemachte geht. … Eine mir bekannte gemeinnützige Institution hat inzwischen eine Halle angemietet und beschäftigt dort – als ein weiteres Indiz – eine große Zahl ALG II Empfänger als „Leiharbeiter.“ Die intime Kooperation mit den Gemeinden, dem Landratsamt und den Job Centern trägt Früchte. Auf der Strecke bleiben in diesem äußerst bedenklichen System die, die Arbeit suchen, aber keine mehr finden. Längst haben viele Arbeitgeber ihre bisherigen Aufträge an die „Gemeinnützigen“ verloren. …

Soweit es Kolleginnen und Kollegen im ALG II betrifft, mache ich diesen bewusst, dass sie den Freien außerhalb dieser Einrichtungen auch noch die letzten Aufträge wegnehmen. Zumindest aber verhindern sie es, diese zu bekommen.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Putins Geiseln

In Russland wurden Mitte Juli zwei westliche Journalist*innen aufgrund fingierter Anschuldigungen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Westliche Regierungen werden nun einen zynischen Deal mit dem Kreml eingehen müssen, um Evan Gershkovich und Alsu Kurmasheva freizubekommen. Doch gleichzeitig sollten sie klar machen, dass sie Putins „Verständnis“ von Journalismus nicht teilen.
mehr »

Tarifbindung statt Mehrwertsteuersenkung

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder möchte Verlagen, “Begleitschutz” geben. Das hat er bei einer Veranstaltung des Medienverbandes der freien Presse kürzlich angekündigt. Diejenigen unter ihnen, die Presseerzeugnisse herausgeben, sollen nach dem Willen Söders von einer - weiteren - Senkung der Mehrwertsteuer profitieren.
mehr »

Demokratie besser demokratisch schützen

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat das als rechtsextremistisch eingestufte Magazin “Compact” verboten. Es sei ein zentrales Sprachrohr der rechtsextremen Szene, heißt es in der Erklärung dazu. Das Verbot betrifft nicht nur das gedruckte Heft, sondern die gesamte Compact Magazin GmbH und die Conspect Film GmbH – und somit sämtliche Verbreitungskanäle.
mehr »

Schutz vor zu viel Stress im Job

Immer weiter, immer schneller, immer innovativer – um im digitalen Wandel mithalten zu können, müssen einzelne Journalist*innen wie auch ganze Medienhäuser sich scheinbar ständig neu erfinden, die Belastungsgrenzen höher setzen, die Effizienz steigern. Der zunehmende Anteil und auch Erfolg von KI-basierten Produkten und Angeboten ist dabei nur das letzte Glied in der Kette einer noch nicht abgeschlossenen Transformation, deren Ausgang vollkommen unklar ist.
mehr »