Wenn Haltung den Staat gefährdet

Bild: Schillo/Migazin

Meinung

Die Debatte, die im Gefolge des Welttags der Pressefreiheit am 3. Mai den Deutschen Bundestag beschäftigte und die auch die Beobachtung der linken Tageszeitung Junge Welt (JW) durch den Verfassungsschutz thematisierte, fand mit einer Stellungnahme des Bundesinnenministeriums einen aufschlussreichen Abschluss: Der Parlamentarische Staatssekretär des BMI Günter Krings (CDU) verteidigte die Überwachungspraxis, zu der die Linkspartei eine Anfrage gestellt hatte.

Die Stellungnahme, die in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde, bringt für alle, die publizistisch tätig sind, eine interessante Klarstellung. Das vor allem wegen zwei Dingen.

Wo der Extremismus beginnt

Erstens wird mit dieser Beobachtung, die seit mehreren Jahren erfolgt und wegen der Bekanntmachung in den Verfassungsschutzberichten für die Zeitung negative wirtschaftliche Folgen hat, der Aufgabenbereich des Bundesamts für Verfassungsschutz (VS) in bemerkenswerter Weise ausgedehnt. Laut Verfassungsschutzgesetzgebung sollen Organisationen beobachtet werden, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen. Und das – teils jahrelange – Zögern der Behörden, Bewegungen wie etwa PEGIDA in diesem Sinne als Beobachtungsobjekt einzustufen, ist ja bekannt. Bei der JW handelt es sich nun offenkundig nicht um eine Organisation. Das Innenministerium nimmt dies auch einerseits zur Kenntnis, wertet aber andererseits die Tatsache, dass sich die JW-Redaktion auf die Marxsche Theorie beruft und dementsprechend vor allem Autor*innen aus dem linken Spektrum zu Wort kommen lässt, als „Aktionsorientierung“, die die Gleichsetzung mit einer Organisation erlauben soll. Somit werden Redakteure, Autor*innen und Leser*innen/Abonnent*innen gewissermaßen als ein einheitliches, zumindest vernetztes, tendenziell verfassungsfeindlich agierendes Kollektiv in Haftung genommen, obwohl von einem Organisierungs- oder Vereinheitlichungsprozess keine Rede sein kann. Jedenfalls muss man festhalten, dass bereits der Diskussionsprozess, der an den Marxismus anknüpft, vom Verdikt des Extremismus getroffen werden soll.

Zweitens wird die Verfassungsfeindlichkeit inhaltlich begründet, und zwar mit der Bezugnahme dieses Diskussionsprozesses auf die marxistische Theorietradition. Marxisten hätten die Absicht, so das BMI, „nicht nur zu informieren, sondern eine ›Denkweise‹ herauszubilden, um bei den Bevölkerungsgruppen, die sie als Unterdrückte oder Ausgebeutete identifizieren, Verständnis und die Bereitschaft zum Widerstand hervorzurufen“. Die Verfassungsfeindlichkeit des Marxismus wird dabei paradigmatisch – und angesichts der allseits konstatierten Erfahrungen sozialer Ungleichheit wohl auch nicht ganz zufällig – am Begriff der Klassengesellschaft festgemacht. Laut Innenministerium „widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.“ Also ist über die Diskussion hinaus bereits die theoretische Grundlage ein Fall für den Verfassungsschutz.

Redaktionelle Verantwortung: neu gefragt

Der Autor dieser Zeilen sieht sich durch die offiziellen Auskünfte jedenfalls direkt in die Verantwortung genommen und hat sich in diesem Sinne auch an verschiedene Redaktionen gewandt, z.B. im Bereich der (außerschulischen) politischen Bildung, für die er ab und zu Texte anfertigt. So hat er zuletzt die Veröffentlichung von Christoph Butterwegge über die „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ (Köln 2020) für die Zeitschrift Außerschulische Bildung (Nr. 1/21) rezensiert. Er hat die Redaktion jetzt darauf hingewiesen, dass er gelegentlich in der JW schreibt und dass Professor Butterwegge ebenfalls dort veröffentlicht, etwa am 9.9.2020 eine Kurzfassung der Studie zur sozialen Ungleichheit vorstellte.

Nach den Klarstellungen des Innenministeriums müssen Redaktionen jetzt in doppelter Weise auf der Hut sein. Formal wären Butterwegge und sein Rezensent als JW-Autoren ein Fall der vom VS inkriminierten Strategie des Blattes, auf die Öffentlichkeit einzuwirken; sie vertreten dort „eine bestimmte inhaltliche Linie“, die die „Meinungsbildung der Bevölkerung“ beeinflussen will (laut BMI linksextremistische Merkmale), und tragen dies sogar in andere Medien. Inhaltlich würde das ebenfalls zutreffen, denn Butterwegges letzte Publikation bezieht sich explizit auf die Diagnose der Klassengesellschaft, der aktuelle Relevanz zugesprochen wird. Der Autor geht auf die Theorie von Marx zurück und kritisiert von dort aus u.a. die moderne Armutsforschung, die die unterschiedliche Stellung der Menschen im marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnis und damit den Gegensatz von Kapital und Arbeit ignoriere. Der Rezensent hat dies zustimmend aufgenommen und festgehalten, dass sich der Befund vom grundlegenden Klassencharakter der bundesdeutschen Gesellschaft in der gegenwärtigen pandemischen Krisenlage wie unter einem Brennglas zeige.

Laut der neuesten Aufgabenbestimmung des VS, wie sie in der Bundestagsdebatte zur Sprache kam und aus dem Regierungslager verteidigt wurde, wären solche Beurteilungen den verfassungsfeindlichen Bestrebungen, wie sie von der Tageszeitung JW ausgehen sollen, tendenziell zuzuordnen. Angesichts der neu definierten Extremismus-Lage müssten Redaktionen sich jedenfalls, um diesen Verdacht auszuräumen, von solchen Bestrebungen distanzieren.

Meinungsbildung unter antiextremistischer Kontrolle

Es geht also um einen Vorgang, den die schreibende Zunft, aber auch alle, die mit Bildungsarbeit in Schule oder außerschulischem Bereich zu tun haben, aufmerksam registrieren sollten. Hier wird eine Linie fortgesetzt, die der Verfassungsschutz bereits vor Jahren, als hier und da eine Marx-Renaissance ausgerufen wurde, einschlug. Der Marxismus wurde, so vom VS-Experten Armin Pfahl-Traughber, als verfassungsfeindliches Programm identifiziert, und zwar im Blick auf den Modus der Rezeption (vgl. „Marx als Linksextremist“, in: J. Schillo, Zurück zum Original – Zur Aktualität der Marxschen Theorie, Hamburg 2015, S. 87ff): Wer Marxens Ausführungen für richtig hält, ist ein Extremist und wird damit tendenziell aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt. Wer sich aus einer Distanz heraus auf die Theorie bezieht und sie weiterentwickelt, revidiert, kritisiert etc., darf das ungehindert tun. Wobei diese Vorschrift noch ohne die Beanstandung der theoretischen Leistung von Marx auskam: Die Freiheit, sich bei der Kritik der politischen Ökonomie wie in einem Steinbruch zu bedienen, wurde gewährt. Die Auswahl der Theoriebausteine wird nun begrenzt, der Klassenbegriff kann demnach nicht mehr ohne Weiteres verwendet werden.

Speziell betrifft dieser Vorgang die politische Bildung. Seit längerem versteht sich der Verfassungsschutz als eigenständiger Bildungsakteur, was in der Praxis zu weit ausgreifenden Maßnahmen führt. Ob Rechts- oder Linksextremismus, ob Islamismus/Salafismus oder Gewaltbereitschaft bei Fußballfans, ob Hate Speech oder Desinformation im Internet, ja sogar bei förderungsrechtlichen Fragen oder geschichtspolitischen Veranstaltungen – überall fühlt sich der Dienst zuständig, wie zuletzt noch einmal die Publikation von VVN-BdA und Humanistischer Union (Cornelia Kerth/Martin Kutscha, Was heißt hier eigentlich Verfassungsschutz? Köln 2020) deutlich gemacht hat. Und in der Extremismus-Frage beansprucht er sowieso die politisch-theoretische Deutungshoheit.

Das jüngste Beispiel für einen solchen expansiven Kurs war die Konstruktion eines neuen extremistischen Tatbestands – „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ – zur Überwachung der „Querdenker-“Szene. Wenn dieses Konstrukt Bestand hat, müssen also jetzt Redaktionen, die über kritische Wortmeldungen informieren, z.B. vor der genannten Publikation von Kerth/Kutscha warnen. Denn sie bezweifelt die offizielle staatliche Darstellung, dass der Verfassungsschutz die Verfassung schützt. Professor Hajo Funke, der als Wissenschaftler die diversen NSU-Untersuchungsausschüsse begleitete, hat in einem Interview ebenfalls auf diesen Punkt aufmerksam gemacht und sich als „Delegitimierer“ bekannt: Er bezweifelt nämlich, dass die Untersuchungsausschüsse zu den letzten Staatsschutzskandalen wirklich das Ziel der rückhaltlosen Aufklärung verfolgten.

Man sieht, die Zulassungsbedingungen zum öffentlichen Diskurs werden neu geregelt – und das zu einem Zeitpunkt, wo Deutschland lautstark die Unterdrückung der Pressefreiheit in anderen Ländern wie China, Russland oder Ungarn anprangert. Bleibt die Frage, was man als Aufklärung über gesellschaftliche Sachverhalte heute noch sagen darf, ohne ins extremistische Fahrwasser und damit ins Visier des hochgerüsteten deutschen Sicherheitsapparates zu gelangen.

Johannes Schilo ist Sozialwissenschaftler und freier Journalist, war langjährig tätig als Autor und Redakteur in der Weiterbildung, letzte Buchveröffentlichung: „Die AfD und ihre alternative Nationalerziehung“ (2019)

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