Presseskandal in Hamburg: Fotografen zwingen SPIEGEL-Beschäftigte zum Abstieg bei der Arbeit
Stolz präsentierte der Spiegel-Verlag im eigens dafür gecharterten ICE zwischen Hamburg-Altona und Hamburg-Harburg am 14. Juli 1997 die „erste digitale Zeitung Deutschlands“ – die „ICE-press!“. Das Senden der Texte von der Brandstwiete in den fahrenden Zug klappte hervorragend.
Schwieriger ist da schon der Gang von der Rechtsabteilung ins Archiv. Bekanntlich streiten sich vor dem Hamburger Landgericht 72 Fotojournalistinnen und -journalisten mit dem Nachrichtenmagazin über die Nachhonorierung ihrer Fotos für die Veröffentlichung auf fünf CD-ROMs der „Spiegel“-Jahrgänge 1989 bis 1993. Beim ersten Prozeßtag am 18. März 1997 wurde vom „Spiegel“-Anwalt Jörg Soehring noch in Abrede gestellt, daß der Anwalt der Fotografenvereinigung FreeLens, Dirk Feldmann, die 72 Kolleginnen und Kollegen der optischen Zunft überhaupt vertreten darf.
Nachdem dieses Problem am 2. Verhandlungstag am 24. Juni 1997 geklärt war, konfrontierte „Spiegel“-Justitiar Dietrich Krause das Gericht und das Publikum mit den wirklichen Problemen eines Verlagshauses. Nun müsse der Frage nachgegangen werden, so der Hausjurist, ob die 72 Prozeßwütigen im fraglichen Zeitraum tatsächlich erstens Fotos abgeliefert hätten, und zweitens, ob die auch im Blatt waren und somit auch auf den CDs zu finden sind. Dies herauszufinden, gestaltet sich äußerst schwierig – „dafür muß dann immer jemand in den Keller steigen“, so Krause vor dem Hohen Gericht. Wahre Abgründe tun sich da auf. Der „Spiegel“ ist bekannt für sein über 20 Millionen Dokumente umfassendes Megaarchiv („Herz der Redaktion“, Rudolf Augstein) und selbst stolz darauf. Das „xy im Text“ einer „Spiegel“-Schreiberin oder eines Schreibers steht für die „Leerstelle im Redakteurswissen, für fehlende Vornamen, Titel oder Zahlen.“ („Der Spiegel“: Sonderausgabe 1947-1997, Seite 150.) Die 112 Frauen und Männer im Archiv wollen schließlich beschäftigt sein. Die Fachgruppe Journalismus der Hamburger IG Medien überlegt zur Zeit, ob sie Krause das goldene xy für sein Leerwissen verleiht. Die Fotoredaktion führt nämlich „Anstrichexemplare“. So alles seinen ordnungsgemäßen Gang geht, rechnet die Buchhaltung nach diesen Anstrichheften mit den Fotografen ab. Das muß wohl so geheim geschehen, daß es der Rechtsabteilung verborgen bleibt. Deshalb müssen nun arme, geknechtete Beschäftigte ständig in den dunklen Keller steigen und filigrane Detektivarbeit leisten. Immerhin müssen um die 7000 Fotos ausfindig gemacht werden. Das kann dauern.
Um das Verfahren abzukürzen, gestattete sich ein Zuhörer den Zwischenruf, das Gericht könne sich doch die CDs anschauen und selbst überzeugen, ob die strittigen Fotos zu finden sind. Da wurde der Vorsitzende Richter Dr. Wolfgang Neuschild dann so kleinlaut, daß er vergaß, sich den Zwischenruf zu verbitten. Dafür gab er aber der erstaunten Fachwelt bekannt, daß dieses an sich logische Vorgehen nicht händelbar ist, es fehle dem Gericht an der nötigen technischen Ausstattung. Wieder tun sich Abgründe auf. Hatte der Richter doch am ersten Prozeßtag gesagt, sollte FreeLens recht bekommen, wäre das eine „echte Fortschrittbremse“ für die Menschheit. Da hilft es auch nicht weiter, wenn der Richter den Fotografen zugesteht, daß ihr Bedürfnis nach Rechtsklarheit verständlich sei, der Gesetzgeber die Möglichkeiten der „neuen Medien“ aber nun mal nicht habe voraussehen können.
Noch und nöcher haben wir es hier mit Standortrisiken zu tun: Fotografen, die für einmal Arbeiten mehrmals Geld wollen, ein technisch unzureichend ausgestattetes Gericht, eine Legislative, die den technischen Fortschritt verpennt und ein Verlag mit einem unübersichtlichen Keller. Doch allen kann geholfen werden: Im oben erwähnten „Spiegel“-Sonderheft ist der Beitrag über das Archiv mit „Großmeister der Inquisition“ übertitelt.
Darin lesen wir, die Archivare kommen – bevorzugt am Freitag abend – mit Papierbündel und Buntstiften unterm Arm „auf leisen Sohlen zur Tür herein“ und haben einen Blick aufgesetzt „der dem ,Spiegel‘-Redakteur Demut und Geduld diktiert“. Wie wäre es mit einer strategischen Allianz zwischen „Spiegel“-Archiv und Landgericht? In einer Art Joint-Venture gehen die Großmeister Richter Neuschild zur Hand und bringen gleichzeitig die „Spiegel“-Rechtsabteilung auf Vordermann. Die nächste Runde des Prozesses (19. August 1997) findet in der Brandstwiete statt und die „Spiegel“-Kantine ist sowieso besser als die im Landgericht.
Günter Frech