Der Berliner „Problembezirk“ Wedding ist „Programm und Inspiration“ für ein jährliches unabhängiges Magazin zur Alltagskultur. Ein von Chefredakteurin Julia Boeck und Herausgeber Axel Völcker bewusst gewählter Name, um einen anderen journalistischen Blick auf die Stadt zu pflegen.
Die Idee entstand beim Blick aus Völckers Küchenfenster auf seinen Weddinger Hinterhof mit einer Kutsche und allerlei Sammelsurium. Davon inspiriert beschloss er, ein Magazin herauszugeben, das den Bezirk authentisch widerspiegelt. Seitdem sind drei 116 Seiten dicke jeweils monothematische Journale erschienen, das vierte wird im September herauskommen.
Kleine Begebenheiten des Großstadtalltags werden thematisiert, die praktisch überall vor der Haustür passieren. Damit ist das Blatt auch Spiegel ähnlicher Kietze anderer Städte. An den sensibel erzählten Geschichten und sie begleitenden Bildstrecken arbeiten etwa 30 freie Autoren, Fotografen und Illustratoren, die „symbolisch bezahlt“ werden, wie Boeck sagt. Die Themenfindung ist ein „langer Prozess, für den wir uns viel Zeit lassen.“
Menschen müssen für diese Sichten ihre Türen öffnen – „Komm`se rin!“ hieß deshalb auch das Auftaktheft vor drei Jahren. Die noch aktuelle Ausgabe 2010 beschäftigt sich mit dem Thema Arbeit in einem entindustrialisierten Stadtgefüge. Die Lebensader Müllerstraße wird in der Gegenüberstellung von gestern und heute als eine Straße der Gegensätze vorgestellt, deren glanzvolle Zeiten vorbei sind. Heutigem Broterwerb, der Arbeit von Kreativen, ortsansässigen Gewerbetreibenden oder auch der Ruhelosigkeit im Alter wird viel Raum gegeben. Und berichtet wird über eine besondere Form der Arbeit, das Betteln. Die von einem auf Produktfotografie spezialisierten Fotografen perfekt abgelichteten Bettelschilder und die Geschichten ihrer Besitzer erzählen vom Geben und Nehmen und der Würde derer, die ganz unten sind.
Jedes Heft ist anders strukturiert ohne klassische Rubrizierung. Vier Teile der aktuellen Ausgabe sind durch ein „Bürolexikon“ schwarz auf knallrot getrennt, in dem Bürovokabular erläutert wird: „Wir haben aus großer Auswahl affektierter Bürosprache das Schrecklichste genommen“, meint die Chefredakteurin. Ganz hinten finden sich gelbe Seiten mit individuell geschriebenen Empfehlungen aus dem Bezirk a là: Man läuft immer wieder dran vorbei – am Zuckermuseum, dem Fachgeschäft Klebeland, dem Restaurant Tante Elli …„Diese Tipps sind auch Teil unserer Finanzierung durch Anzeigen.“ Die Grafik wird aus dem Thema für jede Ausgabe entwickelt: „Keine gestellten Fotos, kein Photoshop, keine Spielereien sondern klare Sprache in Typografie und Bild“ erläutert Cheflayouter Axel Völcker. Die Gestaltung dient dem Inhalt, das ist für den gelernten Kommunikationsdesigner Prämisse: „Zum Wedding passt kein Hochglanz“.
Der Wedding wird in einer Auflage von 5.000 gedruckt und für 6 Euro (im Wedding selbst für 5) im Presse- und Buchhandel auf Bahnhöfen und Flughäfen und in ausgewählten Läden verkauft. Bei wachsender Leserschaft in ganz Deutschland und geplanter Auflagensteigerung macht sich Julia Boeck, die als freie Journalistin mit Völcker eine Bürogemeinschaft betreibt, keine Sorgen um die Zukunft des Magazins. „Wir haben das Gefühl, es machen zu müssen, weil Geschichten, wie wir sie erzählen, im Medienalltag hinten runter fallen.“