Eine einzig(artig)e öffentliche Plattform

Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani Foto: Gordon Welters

Meinung

Schon vor der „Causa Schlesinger“ gab es in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – auch im RBB – und darüber hinaus, Diskussionen, wie deren Aufgaben und Funktionen als Entitäten im digitalen Raum neu und zeitgemäßer zu definieren seien. Als ein digitaler Akteur muss man sich grundlegenden Herausforderungen im Bereich des Datenmanagements und der Personalisierung digitaler Inhalte stellen. Darüber wurde jedoch bislang wenig intensiv diskutiert.

Augenfällig ist auch, dass die Sinnhaftigkeit der Produktion von „Unterhaltung“ durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) zwar ausgiebig, die potenzielle Aufgabe digital agierender öffentlicher Rundfunkanstalten für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt hingegen, erstaunlich zurückhaltend und wenig innovativ betrachtet wurden. Und dies, obwohl soziale Tools im digitalen Raum im Prinzip völlig neue und intensivere Interaktionen mit dem Publikum ermöglichen. Zu diesen „Lücken“ hat der Sturz der RBB-Intendantin die Themen einer wirkungsvolleren Beteiligung von Mitarbeitenden und Nutzenden hinzugefügt. Dies ist nun als Chance zu sehen, denn nur dann, wenn partizipative, mitbestimmende Elemente im ÖRR selbst verankert sind, kann er als Unterstützer demokratischer Ideen glaubhaft agieren.

Im Zuge der Neuverhandlung des Medienstaatsvertrages wurden dem ÖRR mehr Freiheiten bei der Flexibilisierung ihres Auftrages zugestanden: „Lineare Inhalte“ können damit zunehmend auch in den Online-Bereich verlagert werden. Maßnahmen, welche auch von den Gewerkschaften unterstützt wurden, gilt es doch, die öffentlichen Angebote auch „im Digitalen weiter abzusichern“, vor allem indem ihre Wahrnehmbarkeit erhöht wird. Bislang spielt der ÖRR in dieser Sphäre jenseits der Mediatheken keine wesentliche Rolle und hat so bereits ganze Bevölkerungssegmente verloren – Jugendliche nutzen überwiegend private Anbieter, Streamingdienste wie Amazon, Netflix und YouTube. Das Ziel und das Selbstverständnis zur Schaffung eines umfassenden „Public Value“ durch den ÖRR für die Gesellschaft ist somit schwerlich zu erreichen.

Bereits Ende 2020 machte sich der damalige BR-Intendant Ulrich Wilhelm „für ein europäisches Gegengewicht zu Internet-Riesen wie Facebook, Google und Amazon stark. Das Ziel: Eine unabhängige digitale Infrastruktur.“ Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse zu einer Plattform werden, sagte er in einem Horizont-Interview. „Neben eigenen Inhalten muss er auch Inhalte Dritter – zum Beispiel aus Wissenschaft und Kultur – bündeln und kuratieren können, sozusagen im Sinne einer gemeinwohlorientierten Community“, so Wilhelm. Im April 2021 weist ARD-Vorsitzender Tom Buhrow nochmals auf den Vorschlag für ein „öffentlich-rechtliches Content-Netzwerk“ hin. Er plädiert dafür, die Reformdebatte des ÖRR an einem Zukunftsbild auszurichten, in dem die sogenannte non-lineare Nutzung die „klassische“ lineare Nutzung überholt haben werde, was die Medienforschung auf das Jahr 2030 datiere. „Die Menschen holen sich, was sie wollen und wann sie es wollen. Und zwar aus einer einzigen großen öffentlich-rechtlichen Mediathek“, sagte Buhrow.

Plattformen sind Intermediäre, welche zwischen Nachfrage und eigenem bzw. kuratiertem fremden Angebot ein Match einrichten und hierfür Transaktionsdaten sammeln und auswerten, um ihr Angebot zu optimieren und kundenspezifische Angebote zu konfigurieren. Die Nutzenden haben auf einer solchen Plattform – etwa einer „einzigen großen öffentlichen Mediathek“ – eine umfassende Auswahl an Funktionen und Inhalten. Damit ist es notwendig, mit Nutzerdaten ethisch sinnvoll umzugehen und eine „Personalisierung“ bzw. subjektive Auswahl bestimmter Angebote und Ausblendung anderer, zu ermöglichen. Neben nicht unerheblichen datenrechtlichen Bedenken bzw. notwendigen Investitionen in ein Datenmanagement besteht hier die Gefahr, dass damit auch private „Filterblasen“ geschaffen würden und der Zusammenhalt der Gesellschaft weiter unterminiert würde. Bislang verzichtet der ÖRR auf diese Funktion weitgehend bzw. steht der Erfassung und Auswertung von Daten prinzipiell zurückhaltend bis ablehnend gegenüber. Allerdings würde damit privaten Anbietern ein Vorteil erwachsen, den der ÖRR nur schwer kompensieren könnte.

In diesem Kontext macht der Medienrechtler Jochen Schwartmann nun den Vorschlag eines „Zwei-Säulen-Modells“: Nutzende können ihre eigenen Präferenzen im Tool abbilden („Individuelle Vielfalt“), die Sendeanstalten müssen parallel aber eine Darstellung ermöglichen, welche ausgewogen und „objektiv“ ist („Plurale Vielfalt“). Auf den Geräten der Nutzer*innen würde dann etwa angezeigt, welche Informationen, Fragen, Diskussionen und Meinungen jenseits des privaten Filters relevant sind. Auch wenn noch nicht klar ist, wie ein Algorithmus aussehen muss, der derartig objektive Darstellungen ermöglicht (also mehr beinhaltet, als das gewohnte bloße Klickzahlen-Ranking) und wohl so etwas wie Rousseaus „Allgemeinen Willen“ der Bevölkerung digital abbildet, ist dies zumindest eine theoretische Lösung.

Beim all den technischen Möglichkeiten stellt sich dann die Frage, welche Rolle jenseits der Unterhaltung eine derartige ÖRR-Plattform denn für den Nutzenden überhaupt spielen sollte. Auch wenn dieser Punkt bislang kaum detailliert beleuchtet wurde, muss man annehmen, dass derartige Tools, den Nutzenden bei wichtigen Entscheidungen in seinem Leben unterstützen sollen. Es ließe sich also ein Public Value schaffen, um dem Nutzenden zu helfen, mittels Informationen und Dienstleistungen, die anstehende Phase der gesellschaftlichen Transformation (Klima, Energie, Arbeit …) zu bewerkstelligen, sein Leben neu auszurichten (lebenslanges Lernen, hybrides Arbeiten, neues Konsumverhalten, digitale Kultur …) und damit verbundene politische Entscheidungen zu treffen. In einer multipolaren Welt greift das Individuum hierbei auf verifizierbare, objektivierbare Inhalte zu, die einem Diskurs standhalten.

Diese Aufgabe wiederum ist aber wohl nur zu erfüllen, wenn die Nutzenden auch Teil einer solchen Plattform sind. Sie könnten beispielsweise wichtigen regionalen Inhalt beisteuern, überprüfen, kommentieren und diskutieren. Der ÖRR würde hier seine Nutzenden als eine Community organisieren und moderieren. Zugegeben, dies wäre durchaus eine neue Rolle für eine Rundfunkanstalt. Oder vielleicht auch nicht. Schon heute werden Serviceleistungen angeboten und ein Blick auf private Anbieter zeigt, welche Möglichkeiten zum Aufbau von Communities für Medienanbieter bestehen. Man könnte etwa Netzwerkmitglieder und deren Angebote und Nachfragen in einer bestimmten Region suchen, zum Beispiel auf digitalen Karten, welche Smartphones bereits nutzen, um Angebote zu verorten. Damit würde eine große Herausforderung der Gesellschaft (Viele reden, Wenige hören zu) angegangen und die Distanz zwischen der publizierten und der öffentlichen Meinung verringert bzw. konstruktiv diskutiert werden: Sorgen, Ängste, Bedenken, Hoffnungen, Erfahrungen und Ideen werden transparent, können Ausgangspunkte für konstruktive Dialoge und Lösungsansätze sein. Public Value ist somit kein „abstraktes Konzept“, sondern entsteht im Dialog, in einem „Aushandlungsprozess“ mit den Nutzenden.

Letztlich sind derartige Ideen aber auch davon abhängig, wie glaubhaft sie vom ÖRR mit seinem Management und den Mitarbeitenden vermittelt werden. Streng hierarchische Organisationen sind kaum geeignet, demokratische Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen, ohne sich in Widersprüche zu verstricken. Ansätze, so wie sie etwa zurzeit beim RBB diskutiert werden und welche eine maßgebliche Beteiligung der Mitarbeitenden und Nutzenden fordern, erfüllen dann eine wichtige Funktion und sind quasi eine Voraussetzung für die hier skizzierten Maßnahmen. Plattformen, welche sich der Verbreitung und Stärkung demokratischer Grundsätze verschrieben haben, müssen wohl zunächst auch selbst gewisse partizipative Prinzipien verinnerlichen. Das bedeutet für den ÖRR und seine Mitarbeitenden, sich einem tiefgreifenden Veränderungsprozess zu unterziehen. Er beinhaltet die Stärkung individueller Verantwortung und die Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten, bevor die angesprochenen technologiebasierten Konzepte Aussicht auf Erfolg haben.

Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani ist ein assoziiertes Mitglied des Einstein Zentrums Digitale Zukunft, Berlin; außerordentlicher Professor an der School of Public Leadership der Universität Stellenbosch, Südafrika; Lehrbeauftragter an der Universität Basel. Er hat über 20 Jahre Erfahrung bei internationalen Beratungsunternehmen unter anderem als Executive Partner bei Accenture. Zuletzt war er Rektor und Professor an der ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin.

 

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