Flucht aus dem Flächentarif

Ohne Tarifbindung in Arbeitgeberverbänden – aktuelles Beispiel: Wetzlardruck

Von einem Tag auf den anderen ist Wetzlardruck (Wetzlarer Neue Zeitung) aus der Tarifbindung ausgestiegen. Die Geschäftsführung verkündete den rund 300 Beschäftigten in Verlag und Druckerei Anfang Juli per Hausmitteilung, der größte Zeitungsverlag Mittelhessens sei in den Unternehmerverbänden BDZV und Bundesverband Druck von nun an nur noch Mitglied „ohne Tarifbindung” (OT).

Wie viele Unternehmen im Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) von der Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung Gebrauch machen, wollte deren Sprecherin auf Nachfrage nicht mitteilen. Sicher ist: Das Ausmaß der auf diesem Weg vollzogenen Tarifflucht ist gravierend. So gilt der Flächentarifvertrag in Hessen nur noch in einer Handvoll der gut 30 Zeitungsverlage. „OT-Mitgliedschaften sind die wesentliche Form der Tarifflucht”, berichtet ver.di-Landesfachbereichsleiter Manfred Moos. Die Verbände der Medienbranche ermöglichen den Firmen per Sonderkündigungsrecht einen kurzfristigen Wechsel und machen es ihnen damit leicht, aus dem Tarif auszusteigen.

Gewerkschafter Moos ist davon überzeugt, dass sich die Arbeitgeberorganisationen mit diesem Angebot letztlich selbst schaden. Der Ausstieg von Firmen aus dem Flächentarif setze „eine Spirale nach unten in Gang”, da die verbleibenden Unternehmen mit Tarifbindung noch stärker unter Druck geraten. Irgendwann stehe der Verband als Tarifakteur insgesamt zur Disposition – ein klassisches Eigentor, zumal die Kostenvorteile stets nur so lange wirken bis die Konkurrenz nachzieht. „In seiner radikalsten Variante ist OT der Einstieg in den Ausstieg aus dem Verbandstarifvertrag”, bestätigt Martin Behrens vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Allerdings nicht immer. In vielen Fällen seien die Gewerkschaften in der Lage, nach einem OT-Wechsel Haustarifverträge durchzusetzen. „Die Wünsche der Unternehmen gehen nicht immer auf”, betont Behrens.

Flexible Tarifverträge.

Von dem Versuch, die Tarifverträge weiter zu flexibilisieren – sprich: zu verschlechtern –, um Firmen von diesem Schritt abzuhalten, hält der Wissenschaftler nichts. „Die Tarifverträge sind schon jetzt extrem flexibel, das hält Unternehmen nicht vom Austritt oder vom Wechsel in die OT-Mitgliedschaft ab.” Stattdessen plädiert Behrens dafür, das Tarifsystem durch staatliche Maßnahmen zu stabilisieren – zum Beispiel mit Hilfe von Vergabegesetzen und der weiteren Erleichterung allgemeinverbindlicher Tarifverträge. „Wenn Standards nach unten eingezogen werden, verringert sich die Kluft zwischen tarifgebundenen und tariflosen Betrieben – und damit der Anreiz, die Kosten durch Tarifflucht zu senken”, argumentiert der Sozialwissenschaftler
Die Dumpingkonkurrenz bei Verlagen und Druckereien zu beenden, wäre auch aus Sicht tarifgebundener Firmen sinnvoll. Vor allem aber ist dies im Interesse von Belegschaften wie der bei Wetzlardruck. Zwar gelten die aktuellen Tarifverträge für Gewerkschaftsmitglieder und diejenigen, die schnell noch bei ver.di eintreten, auch nach dem OT-Wechsel weiter. Ob künftige Lohnerhöhungen allerdings gewährt werden und die Tarifstandards auch für Neueingestellte gelten, entscheidet die Geschäftsleitung in Zukunft nach Gutdünken.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Medienvielfalt in Sachsen schrumpft

Für viele war dieser Schritt bereits im Januar absehbar, als die Nachricht die Runde machte, die Sächsische Zeitung (SZ) solle dem Konzern Madsack einverleibt werden. Als der Medienriese mit Hauptsitz in Hannover schließlich im Mai alleiniger Eigentümer der Sächsischen Zeitung wurde, die zuvor der DDV-Mediengruppe gehörte, mit einer Auflage von immerhin noch knapp 150 000 Abonnent*innen, wurden die Befürchtungen konkret.
mehr »

Fiktion über Ostdeutschland

Viele Ostdeutsche beklagen, dass Filme und Serien nicht immer die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Menschen im Osten wiedergeben. Denn ihre Geschichten werden oft von Leuten erzählt werden, die im Westen sozialisiert wurden. Dabei kommt es jedoch weniger darauf an, wer die Geschichten schreibt. Der Tonfall ist ausschlaggebend.
mehr »

Streik im WDR erhöht den Druck

Mit einem 24-stündigen Warnstreik erhöhen die Beschäftigten von WDR und Beitragsservice unmittelbar vor der nächsten Runde der Entgelttarifverhandlungen am 16. August noch einmal Druck auf die Geschäftsführung. ver.di fordert eine Erhöhung der Gehälter um 10,5 Prozent für Angestellte, mindestens jedoch 500 Euro monatlich für Vollzeitkräfte. Der Streik begann am Donnerstag um zwei Uhr. Zentrale Kundgebungen fanden in Köln und Dortmund statt. Aufgerufen haben neben ver.di auch der DJV, die vrff und unisono.
mehr »

„Unsere Arbeit ist das Geld wert“

Beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) und beim Bayerischen Rundfunk (BR) hat ver.di zu Warnstreiks in den stockenden Tarifverhandlungen aufgerufen. Sie haben am 7. August begonnen und sollen bis zum frühen Freitagmorgen dauern. Dann werden es beim BR sogar 48 Stunden gewesen sein. Für die Beschäftigten beider Sender fordert ver.di 10,5 Prozent mehr Gehalt und Hornorar, mindestens aber 500 Euro monatlich. So soll die Kaufkraft der Mitarbeitenden gesichert werden.
mehr »