Ganz schön dreist

Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zum Jahreswechsel ist ein großer sozialpolitischer Fortschritt. Keine Frage. Er soll ein Netz einziehen, das den Fall der Entgelte im Niedriglohnbereich auffängt. Doch dieses Netz hängt mit mageren 8,50 Euro pro Stunde nicht nur sehr tief. Es wird auch immer löchriger.

Besonders betroffen sind die Zeitungszusteller. Bereits während des Gesetzgebungsprozesses haben die Verleger eine Diskriminierung derjenigen durchgesetzt, die „in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen”. Im ersten Jahr des neuen Mindestlohns sollen sie mit 6,38 Euro abgespeist werden können, 2016 mit 7,23 Euro. Erst 2018 werden sie mit anderen Niedriglöhnern gleichgestellt.

Doch den Verlagskonzernen reicht das nicht. Denn das offenbar im letzten Moment in den Gesetzestext gerutschte Wort „ausschließlich” hat zur Folge, dass ein Großteil der Zusteller – die zumeist auch Werbeprospekte oder Briefe austragen – Anspruch auf die vollen 8,50 Euro hat. Obwohl das Gesetz längst im Bundesgesetzblatt veröffentlicht ist, fordert die Verlegerlobby Änderungen. Die Ausnahme solle für alle rund 300.000 Zeitungsboten gelten, so ihre Forderung.

Bei den Regierenden trifft sie damit scheinbar erneut auf offene Ohren. Wie ein SPD-Sprecher bestätigt, prüfen die Koalitionsfraktionen derzeit eine Ausweitung der Diskriminierung auf alle Zusteller. Sollten sie tatsächlich im Nachhinein noch am Gesetz herumbasteln, wäre das ein starkes Stück. Dass dies überhaupt ernsthaft diskutiert wird, zeigt, wie weit der Arm der mächtigen Verlagskonzerne reicht.
Das dokumentieren auch vom Bundesfinanzminister erlassene Verordnungen, die das Kabinett im Schnellverfahren gebilligt hat. Demnach sollen Unternehmen bei „mobilen Tätigkeiten” wie der Zeitungszustellung von der Verpflichtung befreit werden, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit zu dokumentieren. Das macht eine Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns quasi unmöglich.
Der treffende Kommentar des ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske: „Der Sinn ist einzig und allein die Förderung der Umgehung des Mindestlohns.” Die Regierung sabotiert also ihr eigenes Gesetz. Ganz schön dreist.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Quartalsbericht zur Branche liegt vor

Einen detaillierten Blick auf das Geschehen in der Medienbranche wirft der jetzt wieder vorliegende Quartalsbericht. Er speist sich aus den Auswertung von Internetseiten, Zeitungen, Fachzeitschriften, Informationsdiensten, Verbands- und Unternehmenspublikationen. Ein Merkmal des ersten Monate dieses Jahres: Viele Übernahmen und eine Werbekonjunktur. 
mehr »

ARD-Krimis werden barrierefrei

Untertitelung, Audiodeskription, Gebärdensprache – das sind die so genannten barrierefreien Angebote, die gehörlosen oder extrem schwerhörige Fernsehzuschauer*innen gemacht werden. Die ARD sendet fast alle neu produzierten Folgen ihrer Krimireihen „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ auch mit Gebärdensprache. Beide Reihen seien „die ersten und aktuell die einzigen regelmäßigen fiktionalen Angebote mit Gebärdensprache in der deutschen Fernsehlandschaft“, erklärte die ARD.
mehr »

Pokerspiele der Süddeutschen Zeitung

Bei einer Betriebsversammlung des Süddeutschen Verlags am vergangenen Dienstag ruderte Geschäftsführer Dr. Christian Wegner etwas zurück. Er deutete an, dass der Stellenabbau in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung (SZ) nicht ganz so dramatisch ausfallen könnte wie bislang befürchtet. In der vergangenen Woche war bekannt geworden, dass der Verlag in München für das laufende Jahr mit einem Abbau von 30 Vollzeitstellen plant. Die dju in ver.di kritisiert das Vorhaben scharf.
mehr »

Das Manifest für die Schublade

Schwein gehabt: Das „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland“, (meinungsvielfalt.jetzt) wurde weder ein Fest für die Freunde einer völlig verstrahlten medienpolitischen Debatte, noch eines für die Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus dem konservativen, neoliberalen und rechts-außen Lager. Ein paar Aufmerksamkeitszeilen in den Medienspalten der Zeitungen und wenige Interviews im Radio – das war’s. Glücklicherweise ist das Manifest fast schon wieder in der Versenkung verschwunden. Dort gehören diese Halbwahrheiten und unausgegorenen Neustartvisionen für meinen Geschmack auch hin.
mehr »