Nur ein Viertel der Redakteur*innen bei der MAZ erfasst die Arbeitszeit
„Ich mache das auch für mich, um gesund zu bleiben“, sagt Helge Treichel. Der Lokalreporter der Märkischen Allgemeinen Zeitung in Prignitz-Ruppin weiß auch, was gern kolportiert wird: Die Online-Ausgabe sei nie vollgeschrieben, das Internet kenne keinen Redaktionsschluss und die Konkurrenz schlafe nicht. Doch gerade deshalb möchte er möglichst viele seiner Redaktionskolleg*innen überzeugen, an der Erfassung der Arbeitszeit teilzunehmen.
Drei Viertel der etwa 80 Journalist*innen und Volontäre in Potsdam und den drei Regionalverlagen füllen bisher die Excel-Tabellen, mit denen die geleistete Arbeit dokumentiert und Mehrarbeitsstunden summiert werden, nicht aus. Das ergab eine Auswertung des Betriebsrates – fünf Monate, nachdem zum 1. Juni eine zuvor über dreieinhalb Jahre erstrittene Betriebsvereinbarung in Kraft getreten ist: „Arbeitszeiterfassung – das Ende des Qualitätsjournalismus?“ fragte die Interessenvertretung deshalb provokativ.
„Journalisten müssen keineswegs rund um die Uhr arbeiten“, ist Betriebsratsvorsitzende Karin Wagner erst recht nach der Einführung mobiler Arbeit mit Reporter-Tools überzeugt. Doch der Zwischenstand in Sachen Arbeitszeiterfassung macht ihr Sorge. Was helfen die edelsten Rechte dem, der sie nicht handhaben kann, habe schon Jacob Grimm gefragt.
Dabei schien einfach, was schließlich im März 2019 in der Einigungsstelle festgeschrieben worden ist: Alle Redakteur*innen und Volontär*innen dokumentieren künftig ihre reale tägliche Arbeitszeit, samt Unterbrechungen und Überstunden. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2019, das Arbeitgeber verpflichtet, ein System zur Messung täglicher Arbeitszeit einzurichten, gab zusätzlichen Rückenwind. Mit einer vom Betriebsrat zur Verfügung gestellten Excel-Tabelle sollte die Erfassung „einfach zur Gewohnheit werden“. Mehrarbeit werde analog zum geltenden Tarifvertrag für Redakteur*innen an Tageszeitungen abgegolten: Wenn in den folgenden zwei Kalendermonaten kein Arbeitszeitausgleich erfolgt, entsteht ein Vergütungsanspruch.
Tatsächlich konstatiert der Betriebsrat nun: Wenn nur wenige das Instrument der Arbeitszeiterfassung anwenden, entwickelt es nicht die erforderliche Wirkung. Das Ziel, das Arbeitsvolumen an die vorhandenen personellen Ressourcen anzupassen, verpuffe. Manche Redakteur*innen begründen ihre Ablehnung damit, dass die Arbeitsaufgaben dadurch nicht geringer würden und Erfassung also nichts nütze. Andere befürchten, dass sie Stress mit ihren Vorgesetzen bekommen, wenn sie die realen Zeiten eintragen. „Dagegen bekommen wir von Kolleginnen und Kollegen, die ihre Arbeitszeit erfassen, die Rückmeldung, dass sie bewusster mit der eigenen Arbeitszeit umgehen und auch Ausgleich erhalten“, sagt Karin Wagner. Nachvollziehbare Probleme habe es bei Einzelnen gegeben, die „hohe kumulierte Anfangsbestände“, also ein großes Überstundenpolster, angesammelt hatten. „Da suchen wir mit der Geschäftsleitung einen Kompromiss über eine vertretbare Ausgangsbasis und sinnvolle Zeiträume, in denen solche Rucksäcke abgebaut werden.“ Dafür, dass viele bislang ihre Arbeitszeit nicht erfassen, sieht Wagner auch Vorgesetzte und letztlich die Geschäftsführung in der Pflicht: „Solange man mir sagt, man werde keine Maßnahmen ergreifen, wenn jemand keine Meldung ausfüllt, sehe ich nicht, dass unser Arbeitgeber seinen gesetzlichen und betrieblichen Verpflichtungen ernsthaft nachkommt.“ Dabei, so Wagner, erlaube die exakte Dokumentation ja auch eine bessere Planbarkeit und die bedeute mehr Stabilität für beide Seiten – Management und Beschäftigte.
Bei der Braunschweiger Zeitung, wo die Redakteur*innen seit fünf Jahren ihre Arbeitszeit elektronisch erfassen, sieht man das genauso. Betriebsratschef Jörg Brokmann schätzt die redaktionelle Arbeitserfassung als „großes Gut“, das hierzulande bestenfalls in zehn Verlagen überhaupt gelte: „Die Potsdamer Chefredaktion könnte regelrecht damit werben.“ Freilich könne es „ein bisschen dauern“, bevor auch im Kultur- und Sportressort der Sinn solcher Erfassung eingesehen werde. Doch im Zuge digitaler Transformation in den Medien sei Dokumentation einfach wichtig, weil die Arbeitsanforderungen für die Redakteur*innen „sonst gesundheitlich zu belastend“ werden.
Das meint auch Helge Treichel aus Oranienburg. „Wir Redakteure haben nicht nur die Möglichkeit, wir haben die Pflicht, unsere Arbeitszeit auf ein gesundes Maß zu begrenzen. Das sind wir uns selbst und unseren Familien schuldig.“
Dass sowohl Betriebsrat als auch die Geschäftsleitung auf die monatliche Auswertung schauen, hat für Karin Wagner „Einfluss auf die redaktionelle Aufgabenverteilung“. Selbst wenn mit zusätzlichen Stellen akut nicht zu rechnen sei, zwinge das zu Umverteilung, zur Beschäftigung von mehr Pauschalist*innen und Freien. Bei Vertretungen für Langzeitkranke habe sich bereits etwas getan. Selbst aus dem Verlagsbereich habe sie inzwischen Resonanz erreicht, meint die Betriebsratsvorsitzende noch. „Wir haben unsere Auswertungspräsentation in alle Bereiche gesandt. Und die Excel-Tabellen kann schließlich jeder ausfüllen.“