Mut für Alltägliches

Jean Boué ist seit 1991 Autor, Regisseur und Produzent von dokumentarischen Formaten. Viele seiner Filme wurden international ausgestrahlt und auf Festivals gezeigt, einige wurden ausgezeichnet u.a. mit dem Civis Award und dem Grimme-Preis. Im Jahre 2011 gründete er die Produktionsfirma DOCDAYS Productions gemeinsam mit Antje Boehmert und Christian Popp in Berlin. Er war Stipendiat der DEFA- und der Robert-Bosch-Stiftung und ist seit 2013 Lehrbeauftragter an der HFF/Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Foto: Claus Sautter

Regisseur Jean Boué: Die wahren großen Geschichten sind die kleinen

M | Wie kommen Sie auf Ihre Stoffe? Es ist nicht mehr sehr alltäglich im Do­kumentarfilm, alltägliche Geschichten zu erzählen. Was haben die Redaktionen gesagt, als sie mit der Idee auftauchten, etwas über die Freiwillige Feuerwehr auf einem Dorf erzählen zu wollen?

Jean Boué | Ich hatte länger keine Filme für den NDR gemacht. Irgendwann habe ich mit einem Redakteur nach einem Thema gesucht, steckte auch schon in politisch brisanten Geschichten. Dabei sagte ich: Am liebsten würde ich ja einen Film über eine freiwillige Feuerwehr machen.

Der Redakteur, der auch vom Land kommt, sagte nur: Super, genau das wollte ich auch schon immer. Damit war klar: Plattes Land, nichts los, keine Jugend, drei Einsätze im Jahr. Natürlich sollte der Film einen gesellschaftlichen Hintergrund haben. Jedenfalls: da hatte ein Redakteur den Mut, den viele andere nicht haben. So entstand 2014 der Film „Adamshoffnung 112“ über die Freiwillige Feuerwehr im brandenburgischen Dorf Adamshoffnung.

Warum interessieren Sie sich für die kleinen Leute?

Kleine Leute gibt es nicht. Das ist eine Frage des Blickwinkels. Seit ich die Parameter in meinem Leben geändert habe und der großen Stadt, den Sushi-Bars, den Clubs und anderen Austauschbarkeiten den Rücken gekehrt habe und aufs Land gezogen bin. Da findet ein Perspektivwechsel statt.

Waren Sie der Stadt überdrüssig?

Ja, ein bisschen. Die Welt ist etwas langweilig, wenn man in Gegenden lebt, wo sich die Leute so ähneln. Auf dem Land sind die Menschen sehr unterschiedlich. Sie wissen vieles. Von dem, was ich bislang für wichtig hielt, wissen sie oft gar nichts. Dafür wissen sie von dem, was ich nie wahrgenommen habe, jede Menge. Es geht um Elementares, um das Leben der Menschen und wie sie es meistern. Aber es geht auch um vermeintlich profane Dinge, wie die Frage, wann die Kartoffel in die Erde geht. Auf jeden Fall beschäftigen mich hier Dinge, die mein Leben unmittelbar betreffen.

Wie haben die Leute im Dorf reagiert, als sie ihnen gesagt haben, dass Sie Filmemacher sind?

Das finden sie sehr exotisch. Aber als Filmemacher ist man auch in der Stadt ein Exot. Das sind Leute, die sind viel weg und dann wieder viel da und die – etwas klischeehaft gesagt – morgens noch lange im Morgenrock rumlaufen. Wichtiger ist: Hier im Osten, zwischen Hamburg und Berlin, sind wir „Berliner”. Egal, wo man herkommt, man ist erst mal „Berliner”. Das ändert sich, wenn man immer hier ist und nicht nur am Wochen­ende. Dann beginnt eine Annäherung, über den Alltag: Arbeiten im Dorf, Kulturvereine. Ich habe mich mein Lebtag von Vereinen ferngehalten, jetzt bin ich im Vorstand in zweien. Aber das passiert, wenn man plötzlich etwas näher dran ist. Wenn man sein Umfeld mit gestaltet.

Wie haben die Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr reagiert, als sie gesagt haben, sie möchten einen Film über sie machen?

Die haben erst mal gar nicht gewusst, was das heißt. Sie wissen nicht, ob man einmal kommt oder zweimal. Und wir sind ja immer wieder gekommen, über zehn Monate lang. Irgendwann heißt es: Ihr seid ja schon wieder da. Und was das Drehen angeht: Wenn man nicht versucht, ihnen Dinge vorzugeben, die man gerne hätte, sondern sich mit dem begnügt, was man vorfindet, dann wird man sehr schnell akzeptiert und in gewisser Form auch integriert. Das ist gelungen, wenn sie nicht mehr fragen, was sie denn tun sollten. Die berühmte Frage: wann fange ich an zu inszenieren? Wann beginne ich eine Szene zu bestimmen? Das fängt schon an, wenn ich eine Lampe zu viel aufbaue. Dann kann der Charakter des Raums sich verändern. Plötzlich fühlen die Menschen sich nicht mehr in ihrem Clubraum, sondern in einer Art Studio und fragen mich, was sie jetzt machen sollen. Aber wenn sie einfach anfangen können, ihre Arbeiten zu erledigen, dann ist das einfach. Dann behalten sie die Regie über ihr Handeln und ich bin derjenige, der versuchen muss, dabei zu sein und Schritt zu halten.

Ein anderer Film ist „Hauptsache Arbeit”. Hier handelt es sich um zwei Pendler, die durch den Film zusammenkommen. Wie waren der Umgang und die Absprachen mit den Protagonisten in diesem Fall?

Wir haben die beiden Männer erst mal auf ihrem normalen Arbeitsweg begleitet und auf Arbeit gefilmt. Da entstand ein Gefühl dafür, was wir vorhaben. Irgendwann war klar, dass wir auch viel erfuhren über die Frauen. Und dann drehten wir auch Szenen von den Wochenenden zu Hause, die ja sehr stressig und durchgeplant sind: Es muss viel erledigt werden. Auf den beiden Tagen liegt die Last vieler Erwartungen.

In einer Szene wird es dramatisch: Es geht darum, ob die Ehe scheitert und das Paar sich trennt. Ist das nicht zu privat?

Das war eine sehr interessante Szene. Die Frau hatte mir privat, ohne Kamera, schon einiges erzählt. Ich wollte dann dieses Zweiergespräch drehen und sie hat die Anwesenheit der Kamera genutzt, um bestimme Dinge einmal an- und auszusprechen, um ihren Mann damit zu konfrontieren, ohne dass er gehen konnte. Sie hat uns in gewisser Weise instrumentalisiert. Aber nicht alle Teile des Gesprächs finden sich in dem Film. Wir mussten sehr genau abwägen. Wir konnten den Mann ja nicht zum Sündenbock machen. Wir wissen ja alle aus unserer Lebenserfahrung, dass dazu immer zwei gehören. Es war schwierig. Aber er hat sich dann auch positiv zur Zukunft äußern können. Und ich habe ihnen gesagt, was ich im Film lassen möchte. Da waren sie in allen Punkten einverstanden, auch mit den kritischen Dialogen.

Haben Sie den Protagonisten vorher die Filme gezeigt?

Das mache ich sehr selten. Ich möchte keine Grundsatzdiskussion über die Gestaltung des Filmes haben oder darüber, wer wie in welcher Szene aussieht. Ich nehme für mich in Anspruch, dafür zu sorgen, dass meine Protagonisten nicht lächerlich gemacht werden, dass sie ihre Würde behalten und dass wir unseren „Vertrag” erfüllen, den wir miteinander haben. Diese Art Vertrauensvertrag, der bedingt, dass keiner den anderen vorführt, das ist der Deal. „Hauptsache Arbeit” hatte beim Filmkunstfest in Schwerin Premiere. Da waren sie alle da, haben gelacht und geweint. Am Ende fanden sie sich selbst in dem Film wieder. Das ist das wichtigste.

Macht Ihnen das in Redaktionen und bei Zuschauern keine Schwierigkeiten, dass das alles nicht spektakulär ist?

Der Stoff ist nicht besonders spektakulär, das gebe ich zu – aber für viele Familien Alltag. Ich habe natürlich auch das Feedback bekommen, es passiere ja schon sehr wenig in dem Film. Wenn ich einen Wanderarbeiter in Nepal genommen hätte, das wäre natürlich viel dramatischer gewesen – gefährlicher, auf den ersten Blick entbehrungsreicher. Ich könnte auch Alltagsbeobachtungen bei Salafisten drehen oder bei Sexarbeiterinnen. Das wäre sicherlich spektakulärer. Ich halte aber daran fest, dass die Themen im Kleinen für den Dokumentarfilm besser zu greifen und besser zu erzählen sind. Ich habe ein Problem mit den so genannten großen Geschichten, die im Titel viel versprechen. Ich glaube, die wahren großen Geschichten sind die ganz kleinen. Die treffen uns.

Von „Hauptsache Arbeit” gibt es zwei Fassungen, eine längere mit 70 Minuten und eine für das NDR-Format „45 Minuten”. War das für sie als Autor problematisch?

Nein, das war problemlos. Der Redakteur hat gesagt, normalerweise müssten immer Kommentare gesprochen werden, aber in diesem Film wolle er keine. Das wurde dann auch so gesendet und hatte, gegen alle Erwartungen, sogar eine passable Quote. Einige Redakteure haben nicht gemerkt, dass da gar kein Kommentar war. Es war eben ein kurzer Dokumentarfilm auf einem Dokumentationsplatz.

Sie haben aber viel für Formate gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ich habe in meinem Leben nur ein einziges Mal nachdrehen müssen, für einen formatierten Sendeplatz. Das hat mich auch erschüttert, ich kannte das nicht. Aber ich habe daraus gelernt. Ich gehöre zu den 20 Prozent Dokumentaristen, die von ihrer Filmarbeit leben wollen oder müssen. Da kann ich mir das nicht immer aussuchen. Aber erstens sind Formate nicht per se schlecht und zweitens kann man auch aus schwierigen Aufgabenstellungen immer noch anspruchsvolle Filme machen, wenn man sie intelligent anlegt. Ich habe versucht, jeden meiner Filme so zu gestalten, dass ich mich darin noch wiederfinde. Ich muss in den Spiegel schauen können und mich fragen, ob das noch vertretbar ist. Bis auf wenige Ausnahmen ist mir das einigermaßen gelungen.

Sie sind Autor, Regisseur und sie produzieren ihre Filme selbst: ein Rucksackproduzent. Derzeit haben sie zwei Produktionsfirmen?

Ich habe lange Jahre als Rucksackproduzent gearbeitet. Aus gutem Grund, denn viele Filme ernähren, wenn es gut geht, nur den Autor selbst. Vor fünf Jahren habe ich gemeinsam mit Antje Boehmert DOCDAYS Produc­tions gegründet. DOCDAYS arbeitet auch mit anderen Regisseuren, das Portfolio ist breiter, Wissenschaft, Geschichte, Investigation – zumeist machen wir internationale Koproduktionen, arbeiten mit Partnern aus anderen Ländern. Meinen Rucksack habe ich noch immer, aber einige der Filme, die ich als Regisseur mache, werden von DOCDAYS produziert. Ich habe gerade einen Film fertig, den ich allein nicht hätte machen können. „Refugee 11”, eine 90-minütige WDR-Koproduktion, erzählt von einer Fußballmannschaft am Rande von Köln, die nur aus Geflüchteten besteht. Eine Alltagsgeschichte von jungen Männern, die versuchen, sonntags zu gewinnen und den Rest der Woche in Deutschland Fuß zu fassen.

Sie können inzwischen eine eindrucksvoll umfangreiche Filmographie vorweisen. Was sind ihre liebsten Arbeiten?

Die liebste Arbeit ist immer die nächste. Aber 1992 habe ich einen Film gedreht, „Willkommen in Deutschland”, 30 Minuten, ohne Kommentar, mit Musik – ein Donnerstag in der Hamburger Ausländerbehörde. Die Aktualität dieser Bilder finde ich überraschend wie erschreckend. Aber eigentlich sehe ich meine Filme nicht wieder an. Ich bin mit meinen Filmen auch nie lange über Festivals getourt. Ich freue mich immer auf meine neue Arbeit und die erledige ich, so gut es

unter den jeweiligen Bedingungen geht. Manchmal gibt es auch Überraschungen. „Refugee 11” ist mein erster Film ganz ohne Musik, obwohl es einen Komponisten gab. Wir stellten am Ende gemeinsam fest: Der Film verträgt keine Musik. Das hat mich schon verwundert.

Fritz Wolf

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