Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat zugunsten eines der wichtigsten Internet-Nachrichtenportale Ungarns entschieden, dass Plattformbetreiber nicht automatisch für Kommentare ihrer Nutzer haften. In seinem Urteil vom 2. Februar 2016 rügte der Straßburger Gerichtshof außerdem „die starre Haltung der ungarischen Gerichte“, die jegliche Abwägung zwischen den widerstreitenden Rechten auf Meinungsfreiheit und auf Unversehrtheit des Rufs eines Unternehmens unterlassen hätten.
Seinen Anfang nahm das Geschehen 2010, jenem Jahr, in dem Viktor Orbán und die Fidesz-Partei die Wahl gewannen und ziemlich schnell die Medien Ungarns durch eine Aufsichtsbehörde, deren Mitglieder von der Regierung ernannt werden, unter ihre Kontrolle brachten. Ungarn ist seitdem bei Reporter ohne Grenzen auf Platz 65 der Rangliste der Pressefreiheit abgerutscht.
In jenem Jahr hatte zuerst die „Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete“ (MTE), eine Selbstverwaltungseinrichtung der ungarischen Internet-Content-Provider, in einem Artikel, dann das ungarische Nachrichtenportal Index.hu in einem Kommentar die Geschäftspraktiken eines Unternehmens, das zwei Immobilien-Websites betreibt, kritisiert. Etliche dessen „Kunden“ hinterließen unter diesen Web-Artikeln ihre durchaus abfälligen und aggressiven Kommentare. Das kritisierte Unternehmen sah darin Geschäftsschädigung und klagte auf Schadensersatz.
Obwohl beide Webseitenbetreiber die Kommentare nach Kenntnis von der Klage entfernt hatten, bekam die Firma in allen Instanzen Recht, bis schließlich das höchste ungarischen Gericht, die Kúria, MTE und Index.hu im Oktober 2012 zu jeweils 75.000 Forint Schadensersatz und Gerichtskosten verurteilte. Zwei Verfassungsbeschwerden blieben ohne Erfolg, so dass MTE und das Nachrichtenportal Beschwerde beim EGMR in Straßburg einreichten.
In seinem Urteil „Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete and Index.hu Zrt v. Hungary“ stellt der EGMR darin eine Verletzung von Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention fest, also der Presse- und Meinungsfreiheit. Die ungarischen Gerichte hätten zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit und dem Recht auf Unversehrtheit des Rufs eines Unternehmens abwägen müssen, dies jedoch nicht getan.
Außerdem seien die beanstandeten Kommentare zwar „aggressiv und vulgär“, hätten aber keinesfalls eindeutig die Rechte des Unternehmens verletzt. Dieses habe bereits vorher im Fokus der Öffentlichkeit gestanden, da es schon etliche Beschwerden der Verbraucherschutzorganisationen gab.
Außerdem bekräftigte der Menschenrechtsgerichtshof, dass „in vielen Fällen“ das „Notice-and-Take-down“-Verfahren bei rechtsverletzenden Internetkommentaren das geeignete Instrument für eine schnelle Reaktion sei, um diese zu löschen. Diese Möglichkeit habe das Unternehmen nicht genutzt. Der EGMR bezieht sich damit auf sein erstes Urteil zur Haftung von Internetportalen für Kommentare.
Während das estnische Nachrichtenportal „Delfi“ aber im Oktober 2013 für diffamierende Kommentare seiner Nutzer über eine Fährschiffreederei haftbar gemacht wurde (app. no. 64569/09, von der Großen Kammer mit Urteil vom 16. Juni 2015 bestätigt), haftet aktuell MTE und Index.hu nicht für die Kommentare. Es kommt, wie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in ähnlichen Fällen, eben auf die konkreten Umstände an. Beiden Klägern muss der Staat Ungarn 5100 Euro für seine Auslagen in dem Fall erstatten.