„Öffentliches Interesse“ verkommt zu einer Begriffshülse, die von Rechtsextremist*innen instrumentalisiert wird, um demokratische Werte auszuhöhlen. So fordern sie bei der Herkunftsnennung von Tatverdächtigen immer mehr Transparenz und drängen Journalist*innen in eine endlose Rechtfertigungsspirale, die rassistische Stigmatisierungen befördert.
Der Fall Augsburg zeigt, dass die Nennung der Nationalität den „Lügen- und Lückenpresse“-Schreier*innen längst nicht mehr reicht: Da von den sieben jungen Männern, die am 6. Dezember einen Feuerwehrmann tödlich verletzten, sechs die deutsche Staatsangehörigkeit haben, wird nun Auskunft über den Migrationshintergrund verlangt. NRW-Integrationsstaatssekretärin Serap Güler zeigte sich jüngst in einem Interview mit der Westfälischen Rundschau besorgt, dass künftig hinterfragt werde, „woher die Eltern oder Großeltern stammen“. Nach Ansicht des Berliner Pressesprechers Thilo Cablitz komme man so „irgendwann in die Rechtfertigungsarie zu sagen: Ja, er hat nicht mal einen Migrationshintergrund. Und dann fangen wir an, zu erläutern, dass Menschen seit Generationen in Deutschland leben und wirklich deutsch sind. Und da dürfen wir niemals wieder hin zurück.“
Diese Gefahr betrifft auch Medien, die sich entschieden haben, immer die Nationalität zu nennen. Dabei heißt es in der geänderten Antidiskriminierungsrichtlinie 12.1: „Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse.“ Mit dem Hinweis auf „öffentliches Interesse“ passiert aber faktisch genau das Gegenteil, nämlich die Herkunft von Tatverdächtigen wird immer häufiger genannt. Das verdeutlicht eine Langzeitanalyse des Hamburger Medienforschers Thomas Hestermann. Während Nationalität in der Kriminalitätsberichterstattung 2014 praktisch keine Rolle spielte, sei sie 2017 schon in jedem sechsten und 2019 sogar in jedem dritten Beitrag erwähnt worden. „Doch die Herkunft von mutmaßlichen Gewalttätern wird meist nur dann hervorgehoben, wenn sie Ausländer sind“, so Hestermann. Im ZDF heute journal vom 15. Dezember wurde das selbstkritisch an zahlreichen Beispielen belegt.
Rechtsextremistische Stimmungen prägen Berichterstattung
Wendepunkt in der Kriminalitätsberichterstattung war die Kölner Silvesternacht 2015/16, die ein Symbol geworden ist für „sexuelle Übergriffe nordafrikanischer Männer auf deutsche Frauen“ und ein Lehrstück für die Medien, die sich in rassistische Deutungsrahmen pressen ließen – nicht nur durch Hetze in sozialen Medien, sondern auch von Verlautbarungen aus Politik und Polizei. Um Redaktionen vor dem Vorwurf mangelnder Transparenz zu schützen, änderte der Presserat seine Richtlinie 12.1, nach der Herkunft jetzt genannt werden darf, wenn es ein „öffentliches Interesse“ daran gibt, während zuvor ein Sachbezug zur Tat vorliegen musste. Diese Änderung kritisiert Hestermann als „krasse Fehlentscheidung“ , denn damit habe der Presserat den Journalist*innen „einen verhängnisvollen Anstoß gegeben, sich weniger von Fakten als von Stimmungen leiten zu lassen.“
Diese Stimmungen werden gemacht – vor allem in den sozialen Medien. Dort setzen Rechtsextremist*innen Politik, Polizei und Presse unter Rechtfertigungsdruck, wenn sie nicht ihre „Wahrheiten“ verbreiten. Hestermann nennt als Beispiel die 2017 einsetzende Debatte über Messerattacken, die angeblich wegen der Zuwanderung steigen. AFD-Politiker*innen befeuerten sie mit Wortschöpfungen wie „Messermigranten“ oder twitterten: „Messerepidemie grassiert!“ Da die Kriminalstatistik diese Behauptungen nicht stützt, fragte die AfD-Fraktion im saarländischen Landtag jüngst nach den häufigsten Vornamen der deutschen Tatverdächtigen – womöglich hätten viele von ihnen einen Migrationshintergrund. Doch die häufigsten Vornamen waren Michael, Daniel und Andreas.
Medien, Politik und Polizei unter Druck gesetzt
Von der Forderung nach immer mehr Transparenz sind Medien nicht nur direkt, sondern auch indirekt betroffen, wenn Politik und Polizeibehörden unter Druck gesetzt werden, sich für ihre Informationsgebung zu rechtfertigen. So hatte die Augsburger Polizei Details aus ermittlungstaktischen Gründen zunächst nicht preisgegeben und deshalb „in den sozialen Medien unerträgliche Anfeindungen hinnehmen“ müssen, so der Augsburger Polizeipräsident Michael Schwald. Um der rechten Hetze den Wind aus den Segeln zu nehmen will NRW-Innenminister Herbert Reul regeln, dass in allen Polizeiberichten künftig die Nationalität von Täter*innen genannt wird. Damit setzt er aber wiederum die Presse unter Druck, das auch zu tun, um in der Öffentlichkeit glaubwürdig zu sein. Denn die Polizei informiert nicht nur die Presse, sondern richtet sich mittlerweile über ihre eigenen Social-Media-Aktivitäten direkt an die Bevölkerung. 2018 gab es in Deutschland über 300 offizielle Polizeikanäle, die mit journalistischen Medien ums Publikum konkurrieren. Doch die Erwähnung der Nationalität durch die Polizei entbindet die Redaktionen nicht von ihrer eigenen presseethischen Verantwortung, zwischen „öffentlichem Interesse“ und Diskriminierungsgefahr abzuwägen.
Bei der Vorstellung des Jahresberichts 2018 im Frühjahr dieses Jahres zog der Presserat eine positive Bilanz zur geänderten Antidiskriminierungsrichtlinie. Während es 2016 noch 62 Beschwerden über die Herkunftsnennung von Strafverdächtigen gab, waren es 2018 nur noch 30. Doch das bedeutet m. E. nicht, dass der ethische Abwägungsprozess in den Redaktionen durch den Bezug auf das öffentliche Interesse nun einfacher und treffsicherer verläuft. Der Rückgang kann auch mit einem veränderten politischen Diskursrahmen zusammenhängen, der durch rechtsradikale Stimmungsmache geprägt ist.
Diese Vermutung stützt Medienwissenschaftlerin Christine Horz, wenn sie kritisiert, wegen der stärkeren Verwobenheit zwischen Gesellschaft, Politik und medialen Agendasettern habe der Presserat mit seiner Neufassung der Richtlinie 12.1 „die Büchse der Pandora geöffnet“. Der Grund: Wenn Themen wie Asyl und Migration zumeist in einem negativen Deutungskontext wahrgenommen würden, übernehmen Medien, die sich an öffentlichem Interesse orientieren, nun auch die negative Rahmung in ihrer Berichterstattung.
Neutralitätsfalle für Journalist*innen
Journalist*innen stehen im Visier rechtsextremistischer Rassist*innen, die sie nicht nur durch fadenscheinige Transparenzforderungen in ihrer journalistischen Arbeit berufsethisch herausfordern, sondern auch physisch bedrohen, um sie einzuschüchtern. Zwischen Anfang 2016 und August 2018 verübten Rechtsextreme laut Bundeskriminalstatistik über 300 politisch motivierte Straftaten gegen Medienvertreter*innen.
Eine Studie zu den „Beziehungen zwischen Journalisten und Rechtsextremisten“ kommt zu dem Ergebnis, dass es neben Gewaltandrohungen auch „professionelle Interaktionsmuster“ zwischen beiden Gruppen gibt: Tausch von Informationen gegen Publizität. In einem der geführten Leitfaden-Interviews mit Medienschaffenden und Szeneausteiger*innen berichtet ein Rechtsextremist z. B. von einem Lokaljournalisten, der von ihm exklusive Informationen erhielt und darüber berichtete: „Er war zwar kein Freund von uns, aber er hat uns in die Medien gebracht.“ Die meisten Journalist*innen wollen gemäß ihrem Rollenverständnis als Informationsvermittelnde auch über Rechtsextremismus „möglichst neutral berichten“– ohne den Rechten eine Werbeplattform zu bieten. Doch damit werde von Journalist*innen „bisweilen die Quadratur des Kreises verlangt“, resümieren die Autor*innen der Studie.
Fazit: Es ist sicherlich im öffentlichen Interesse, möglichst neutral zu berichten, aber auch, dabei nicht zu diskriminieren. Das geschieht aber, wenn Journalist*innen aus Angst vor Lügenpressevorwürfen oder Bedrohungen rechtsextremistische Deutungsmuster übernehmen. „Öffentliches Interesse“ ist nach dem ehemaligen Pressratssprecher Manfred Protze an das Gemeinwohl gebunden. Das Gemeinwohl vertreten nicht Rechtsextremisten und Rassisten. Vor ihnen muss kein Journalist seine und keine Journalistin ihre Berichterstattung rechtfertigen! Mein Wunsch für 2020: Die Politik sollte für die Sicherheit der Medienschaffenden sorgen und das Publikum sich darauf besinnen, dass sein „öffentliches Interesse“ Aufklärung ist und nicht die Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen.
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