Das Plenum des Deutschen Presserats hat eine Neufassung der Regeln für die Kriminalitätsberichterstattung beschlossen. Redaktionen werden verpflichtet, stets sorgfältig zu prüfen, ob die Erwähnung der Herkunft von Straftätern durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Die Änderung der Richtlinie 12.1 des Pressekodex hat geteiltes Echo hervorgerufen. Wir sprachen mit Manfred Protze, seit 2016 Sprecher des Presserats.
M |Eine Streichung der Richtlinie 12.1, die manche Kritiker forderten, um „Zensur“ oder Bevormundung der Öffentlichkeit zu vermeiden, war für den Presserat erklärtermaßen keine Option?
Manfred Protze | Nein. Auf keinen Fall. Mit der bloßen Existenz der Richtlinie erkennen Journalisten und Verleger – unabhängig von ihrer Formulierung im Einzelnen – an, dass es im Feld der Kriminalitätsberichterstattung ein speziell erhöhtes Diskriminierungsrisiko gibt. Durch Erfahrung und Forschung ist gut belegt, dass die Benennung der Herkunftsgruppe von Straftätern in der Wahrnehmung der Medienkonsumenten vorhandene Vorurteile gegen diese Gruppen stärken oder erst hervorrufen kann.
Solche Risiken sind nicht vollständig vermeidbar. Verantwortungsbewusster Journalismus begrenzt dieses nicht vollständig vermeidbare Risiko so weit wie möglich.
Das journalistische Gebot der wahrhaften und allgemeinverständlichen Unterrichtung der Öffentlichkeit kann in Konkurrenz zum vorsorglichen Diskriminierungsschutz geraten. Wenn das öffentliche Interesse stärker als der allgemeine Diskriminierungsschutz wiegt, muss die Gruppe benannt werden können. Alle müssen damit leben, dass damit zugleich ein nicht messbares Risiko in Kauf genommen wird.
Das grundsätzlich nicht lösbare Problem besteht darin, dass sich zum Zeitpunkt einer Veröffentlichung nicht voraussagen lässt, ob die einzelne Veröffentlichung einen Beitrag zur möglichen manifesten Diskriminierung einer Gruppe leisten wird oder nicht. Daraus den Schluss zu ziehen, ohne konkrete Wirkungsbeweise dürfe es keine Selbstbeschränkungen geben, wäre fahrlässig und letztlich verantwortungsarm.
Auch in der Neufassung der Richtlinie 12.1 bleibt es bei der Strategie der Risikobegrenzung und damit beim bisher geltenden Regel-Ausnahme-Verhältnis. Die Herkunft von Straftätern soll auch künftig grundsätzlich nicht benannt werden. Wird sie benannt, muss eine Bedingung erfüllt sein. Diese Bedingung war in der alten Fassung ein „begründbarer Sachbezug für das Verständnis des berichteten Vorgangs“. In der neuen Fassung ist die Bedingung ein „Öffentliches Interesse“, das überwiegt und an das Gemeinwohl gebunden ist. Mit individueller Neugier oder partikularen, organisierten Interessen hat es nichts zu tun. Neu ist dieses Kriterium nicht. Auch die bisherige Regelung knüpfte an das übergeordnete Öffentliche Interesse an: danach war es nie im Öffentlichen Interesse, zu diskriminieren bzw. das Risiko von Diskriminierung fahrlässig zu erhöhen.
Der Vollständigkeit wegen sei erwähnt: Der von einzelnen Gruppen massiv vertretene Gegenpol zur Streichung der Richtlinie war immer die Forderung nach einem ausnahmslosen Verbot, die Herkunft von Straftätern zu benennen.
Viele Redaktionen und Praktiker haben Entscheidungsunterstützung erwartet. Nun gibt die neue Formulierung der Richtlinie 12.1 keine „Handlungsanweisung“, sondern ist eher die Aufforderung, im konkreten Fall professionell und verantwortungsvoll zu prüfen…
Regelwerke haben immer einen unvermeidbaren Grad von Abstraktion. Zusammenfassend geben sie Ziel und Mittel an. Ziel ist hier: das unvermeidbare Diskriminierungsrisiko so weit wie möglich zu begrenzen, ohne die grundlegende Aufgabe einer freien Presse zu beschädigen. Mittel ist hier: jeder risikobehafteten Entscheidung die Legitimität ausschließlich aus der Bindung an das überwiegende Öffentliche Interesse zu geben.
Die abstrakten Begriffe sind stets auslegungsbedürftig. Dabei sind es nicht nur Standardfälle, die wir mit Hilfe von Routinen entscheiden können. Die Regel muss auch in vielen komplexen und neuen Fallkonstellationen angemessen ausgelegt und angewandt werden. – Ideal für den journalistischen Alltag wäre ein Algorithmus, der die ethische Gewichtung und Abwägung blitzschnell für uns erledigt. Das ist und bleibt nach aktuellem Erfahrungsstand voraussichtlich ein Traum. – Handlungs- bzw. Abwägungshilfen können und sollen den Abstraktionsgrad der Regeln anwendungsbezogen deutlich senken.
Es sind zusätzlich Leitsätze angekündigt, die das praktische Handeln erleichtern sollen. Wie können die aussehen und wann kommen sie?
Die Politik des Presserats war es immer, Abwägungshilfen zu entwickeln, wenn ein entsprechender Wunsch danach aus der journalistischen Alltagspraxis signalisiert wird. Es gibt ja auch Kodexregeln, die ohne solche Ergänzungen problemlos anwendbar sind.
Auch für die Richtlinie 12.1 wird der Presserat eine solche Ergänzung erarbeiten. Dabei wird er aus seiner Spruchpraxis mit tausenden entschiedenen Beschwerden typische Fallkonstellationen destillieren, in denen die Ausnahme von der Regel aus seiner Sicht begründet war. Diese Abwägungshilfe soll spätestens bis Jahresmitte zur Verfügung stehen. Sie soll auf der Homepage des Presserats veröffentlicht und bei Bedarf aktualisiert werden.
Wie zufrieden macht Dich die neue Formulierung von 12.1 persönlich?
Ich hätte auch mit der alten Formulierung bei der Entscheidung über Beschwerden zu angemessenen Ergebnissen kommen können. Ich musste jedoch auch akzeptieren, dass der „begründbare Sachbezug“ vielen Kolleginnen und Kollegen Probleme bereitet. Lernen musste ich auch, dass advokatorische Kunst bei der Auslegung des Begriffs „Sachbezug“ zu Ergebnissen führen kann, die in Kollision mit dem Ziel der Regel geraten können. Daher habe ich der Neuformulierung zustimmen können.
Update am 28. 3.2017
Opfer müssen anonym bleiben
Der Deutsche Presserat hat auf seinen Beschwerdeausschuss-Sitzungen am 21., 22. und 23. März 2017 wegen schwerer Verstöße gegen den Pressekodex insgesamt fünf öffentliche Rügen und 19 Missbilligungen ausgesprochen sowie 41 Hinweise gegeben. 8 Beschwerden wurden als begründet bewertet, auf eine Maßnahme wurde jedoch verzichtet, 74 Beschwerden wurden als unbegründet erachtet. Mehr dazu