Wie umgehen mit Verschwörungsmythen?

Ein Mann trägt während einer Protestkundgebung der Initiative "Querdenken 711" gegen die Corona-Beschränkungen auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart einen Aluhut mit dem Schild: „Verschwörungstheoretiker".
Foto: picture alliance/Sebastian Gollnow

„Wir sollten aufhören, einfach das Mikro in die Menge zu halten“, kommentierte Simone Rafael von „Belltower News“ die Medienarbeit bei Demonstrationen von „Querdenkern“ oder „Corona-Rebellen“. Rafael und Andrea Kockler vom Verein „Der Goldene Aluhut“ waren die Referentinnen beim digitalen Medien-Meeting der dju in ver.di zum Thema „Verschwören, verschworen, verschwurbelt“.

Wie können Berichterstatter*innen mit dem Misstrauen gegenüber Medien und den Verschwörungsmythen am besten umgehen, fragte Moderatorin Monique Hofmann. Die Medienleute sollten vermeiden, die Fehler der frühen Berichte über Pegida-Demonstrationen zu wiederholen und nicht unkommentiert Sprüche aus der Menge kolportieren, erklärte Rafael. Wenn sich Corona-Demonstrant*innen durch einen Judenstern mit Holocaust-Opfern gleichzusetzen versuchten, müsse dies in seinem dreisten Ausmaß erklärt werden. Wenn in „Querdenker“-Demos Strömungen von rechtsextrem und identitär bis hin zu friedlicher Esoterik vertreten seien, sollte auch ein differenziertes Bild in den Medien vermittelt werden.

Dass dies in tagesaktuellen Berichten wie Einspielern für Nachrichtensendungen und bei ausgedünnten Redaktionen keine leichte Aufgabe sei, gab die Chefredakteurin von „Belltower News – Netz für digitale Berichterstattung“ zu. Sie ermunterte aber, den Opfern von Ideologien oder Verschwörungsmythen wie QAnon oder Corona-Leugnung eine Stimme zu geben. Neben jüdischen Bürger*innen seien dies zunehmend auch Berufsgruppen in Medizin, Wissenschaft und Lehre.

In der Lokalberichterstattung, so Rafael, sollten eher die Demonstrationsveranstalter*innen in den Blick genommen werden als die Demonstration selbst, wenn überhaupt darüber berichtet werden soll. Einen Anspruch auf unkritische Berichte in lokalen Medien gebe es nicht. Für die Debatten in Kommentarspalten von Online-Medien hatte sie für Verlage den Rat, die Betreuung in ihrer Personalplanung zu berücksichtigen. Hätten die Autor*innen der Berichte und Reportagen die Zeit, dort mitzudiskutieren, würde sich eine deutliche Versachlichung der Diskussion zeigen.

„Verschwurbelungen“ setzten sich besser im Gedächtnis fest als die Gegenargumente, habe die Forschung gezeigt. Deshalb sollte man darauf achten, Verschwörungsmythen nicht nachzuerzählen, meinte Rafael, sondern nur analysierend zu erwähnen. Rafael nannte die Methode „Debunking“. Unter dem Begriff „Framing“ sind Erkenntnisse aus der Hirnforschung über die Signalwirkung von Worten schon länger in der Mediendiskussion bekannt.

Als Risikofaktoren, die Menschen anfällig machen für Verschwörungsmythen und Ideologien, nannte Andrea Kockler eine Gewöhnung an autoritäre Systeme, seien es Staaten, Religionen oder andere Gruppen. Dazu kommen Verunsicherung durch einschneidende Ereignisse, Misstrauen, fehlende Kritikfähigkeit anderen und sich selbst gegenüber, mangelndes Selbstbewusstsein sowie eine geringe Affinität zu wissenschaftlichen Methoden. Direkte Konfrontation sei nicht hilfreich, um mit Menschen, die gerade eine für sie überwältigende neue „Wahrheit“ entdeckt hätten, ins Gespräch zu kommen, auch nicht in den sozialen Medien. Vorsichtiges Nachfragen sei besser, notfalls aber auch Abbrechen des Kontakts zum Selbstschutz oder Themenvermeidung im persönlichen Umgang, wenn ein Austausch über vorgestanzte Formulierungen nicht hinausgehe. Wichtig sei, dem Gegenüber auf Augenhöhe und nicht von oben herab zu begegnen. Fragen stellen sei eine gute, wenn auch nicht immer sofort Wirkung zeigende Methode. Im besten Fall können man damit jedoch Zweifel säen, die bei der betroffenen Person später eine Selbstreflexion anstoßen könnten. „Diskussionen in den sozialen Medien sind nur etwas für Leute mit viel Geduld“, meinte Kockler. Und lohnten nur, wenn das Gegenüber ein Mensch ist und nicht ein algorithmengesteuerter Bot.

Was aber, wenn studierte Expert*innen, etwa bei Corona Ärzt*innen, die Verschwörungsmythen vertreten? Andrea Kockler riet, den fachlichen Hintergrund zu überprüfen. Arzt zu sein bedeute etwa nicht auch automatisch, die nötige Expertise für einen kompetenten wissenschaftlichen Beitrag zur Virologie oder speziell Coronaviren zu besitzen. Denn neben Sendungsbewusstsein und missionarischem Eifer gehöre bei den Tonangebenden oft genug die Eitelkeit zum Charakter.

 

 

 

 

 

 

 

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