Wirklich überraschend sind die Zahlen nicht, alarmierend sind sie trotzdem: Die meisten Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erleben hierzulande regelmäßig Momente, die sie als diskriminierend empfinden. Und je dunkler die Hautfarbe, desto alltäglicher ist der Rassismus in Deutschland. Eine Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) ist diesem Missstand nun auf den Grund gegangen. Die Erkenntnisse der Befragung sind auch in die Drehbücher der Kika-Reihe „Moooment!“ eingeflossen.
Die Ergebnisse einer Befragung von über 1.400 Kindern und Jugendlichen zeigen, welche Folgen alltäglicher Rassismus für die Betroffenen hat. Die wichtigste Erkenntnis bezieht sich auf sogenannte Mikroaggressionen. Das sind Fragen wie „Wo kommst du her?“ oder Komplimente wie „Du kannst aber gut deutsch!“, die nicht böse gemeint sind, aber implizit eine diskriminierende Botschaft enthalten: „Eigentlich gehörst du gar nicht hierher.“
39 Prozent der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen haben eine Zuwanderungsgeschichte. Über zwei Drittel von ihnen haben Erfahrungen mit Alltagsrassismus gemacht. Der Begriff, heißt es in der Studie, „beschreibt das wiederkehrende und normalisierte Erleben von Rassismus eingebettet in alltägliche Routinen und Praktiken“. Fast alle Kinder mit nicht-weißer Hautfarbe kennen das Gefühl, als fremd wahrgenommen zu werden. Das Fernsehen verstärkt dieses Unbehagen: Je dunkler ihre Hautfarbe ist, desto weniger fühlen sie sich angemessen repräsentiert.
Hilflos und verletzt
Zusätzliche Fallstudien verdeutlichen, wie sehr die Kinder durch Diskriminierungen verletzt werden. Es geht dabei ausdrücklich nicht um extreme Ereignisse. Der zwölfjährige Malik zum Beispiel, in Deutschland geborener Sohn eines türkischen Vaters, berichtet, dass er im Unterricht regelmäßig nach türkischen Traditionen befragt wird, weil die Lehrkräfte in ihm offenbar einen „Türkei-Experten“ sehen. Er fürchtet, dass ihn die anderen Kinder deshalb für „weniger deutsch“ halten könnten. Bei der zwölfjährigen Saira hat die Diskriminierung einen gut sichtbaren religiösen Hintergrund: Die in Deutschland geborene Tochter pakistanischer Eltern trägt seit der fünften Klasse einen Hijab, ein Kopftuch, das nur das Gesicht freilässt. Seither hört sie öfter Bemerkungen wie „Ausländer raus“. In der Schule sind die Lehrkräfte immer wieder überrascht, wie gut ihr Deutsch ist. Fayola ist zehn, ihre Eltern stammen aus Nigeria. Die meisten Rassismuserfahrungen macht sie in der Schule oder auf dem Heimweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie beschreibt ein Beispiel, das gut nachvollziehen lässt, wie sich das anfühlt: Einmal habe sie sich neben eine Frau gesetzt, die daraufhin aufgestanden sei und den Platz gewechselt habe.
Die achtjährige Aminata ist gebürtige Berlinerin, ihr Vater stammt aus Gambia, ihre Mutter ist Kurdin. Aminata bezeichnet sich selbst als „afro-deutsch“. Sie hat von klein auf in Kita und Schule Ausgrenzungen erfahren, wie sie erzählt: Sie durfte nicht mitspielen, weil sie braun ist, wurde als „schwarze Pest“ beleidigt oder aufgefordert, sich zu waschen. Das mache sie traurig, sagt sie, weil sie nicht wisse, wie sie in solchen Momenten reagieren soll. Wenn sie gefragt wird, wo sie herkomme, antwortet sie: „aus Berlin.“ Auf die Nachfrage, wieso sie denn dann braun sei, entgegnet sie: „Nur weil ich braun bin, heißt es nicht, dass ich nicht aus Berlin kommen kann.“
Was Weiße lernen müssen
Im Rahmen der Studie gibt es unter anderem ein Interview mit Diana-Sandrine Kunis, Mitbegründerin des Münchner Social Justice Instituts. Unter der Überschrift „Was Weiße lernen müssen“ führt sie aus, warum Mikroaggressionen rassistisch und auch scheinbar harmlose Fragen etwa nach der Familiengeschichte eine Grenzüberschreitung sind. Ihr krasser Vergleich: „Ich frage ja auch nicht im Smalltalk ‚Hat dein Großvater in der SS gedient?’“. Die Gesellschaft müsse sich damit auseinandersetzten, „dass wir in rassistischen und diskriminierenden Strukturen leben“ und dass die derzeitigen politischen Konzepte „nicht greifen und unserer Gesellschaft nicht gerecht werden.“ Kunis fordert daher, dass Diskriminierungs- und Rassismuskritik Teil der pädagogischen Ausbildung sein sollten. Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch die Studie: „Es bedarf dringend mehr und vor allem flächendeckende Fortbildungen für Lehrkräfte sowie Materialen, evaluierte Medien und Unterrichtseinheiten im Sinne der antirassistischen Pädagogik.“
Rassistisches Handeln sichtbar machen
Viele der von den Kindern geschilderten Erlebnisse sind in die Drehbücher zu „Moooment!“ eingeflossen. Die fünfteilige Kika-Reihe bedient sich populärer TV-Formate, um Diskriminierungen im Alltag zu entlarven. In einer Hinsicht weichen die Geschichten allerdings deutlich von der Studie ab: Im wirklichen Leben stammen 70 Prozent der Beleidigungen von anderen Kindern und Jugendlichen; in „Moooment!“ sind die Antagonisten jedoch ausschließlich Erwachsene. IZI-Leiterin Maya Götz, die als Fachberaterin an der Reihe beteiligt war, sagt dazu, das Format solle rassistisches Handeln sichtbar machen sowie Kinder und junge Jugendliche sensibilisieren. Ziel sei es, Grundlagenwissen sowie antirassistische Handlungsoptionen zu vermitteln und Rassismus entgegenzuwirken. Gingen die rassistischen Handlungen von Kindern und Jugendlichen aus, würden sich viele Mitglieder der Zielgruppe jedoch als Täter*innen erkennen und abschalten. Zurück blieben Aggression oder Scham. Eine Rezeptionsstudie ergab, dass sich die Einstellungen vieler Kinder durch „Moooment!“ tatsächlich zum Positiven verändert haben. Götz fordert von den TV-Sendern, dass sie grundsätzlich „die Vielfalt der Gesellschaft besser abbilden, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte stärker in alle Positionen der Medienproduktion einbeziehen sowie Klischees und Stereotype vermeiden.“
Die Studie:
Maya Götz (Hrsg.). „Wenn Du mich noch einmal ‚braune Schokolade‘ nennst!“ Das Erleben von Alltagsrassismus bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. IZI, 2021. ISBN 978-3-922289-56-2