In dem Dokumentarfilm „In Bewegung bleiben“ erzählt Filmemacher Salar Ghazi die Geschichten befreundeter Tänzer*innen von der Komischen Oper in Ost-Berlin, die sich bei jedem Gastspiel im Westen aufs Neue fragten: Bleibe ich oder gehe ich zurück? Gespräche über Erinnerungen aus den 1980er Jahren und privates VHS-Material erzeugen ein komplexes Bild, das das Lebensgefühl in diesem Jahrzehnt wieder lebendig macht. Gezeigt wird der Streifen im gerade beginnenden Berlinale Summer Special.
Im Januar 1988 feiert Birgit Scherzer mit „Keith“ einen spektakulären Erfolg an der Komischen Oper in Berlin. Für die junge Choreografin ist das Tanzstück der Durchbruch. Scherzer stammt wie die sieben Tänzer*innen des Stücks aus nicht-bürgerlichen Verhältnissen und hat, wie auch andere aus dem Ensemble, eine Tanzausbildung an der Palucca-Schule in Dresden genossen. Sie werden im dortigen Internat allumfassend staatlich gefördert, auch in dem Sinne, künftig zur internationalen Elite des „Neuen künstlerischen Tanzes“ zu gehören – so nannte man in der DDR das, was im Westen „Modern Dance“ hieß. Auf dem Weg dorthin gibt es keinen Überlebenskampf wie für Künstler*innen im Westen, eine „Einsatzkommission“ sorgt für das Erstengagment in einem der nationalen Tanztheater.
Der Preis für das „All-inklusive-Paket“ ist die mangelnde künstlerische Freiheit. Die kreative Atmosphäre an der Komischen Oper bildet für das Ensemble zunächst einen Schutzschirm vor ideologischer Bevormundung, doch Ende der 1980er-Jahre wird der Druck größer. Scherzer weigert sich, ein Pablo-Neruda-Libretto zur Musik von Mikis Theodorakis zu verwenden, und erhält danach keine Anfragen mehr als Choreographin und Regisseurin. Jetzt denkt auch sie darüber nach, bei einem Auslands-Gastspiel von „Keith“ einfach nicht mehr ins Hotel zurückzukehren, so wie es bereits einige ihrer Kolleg*innen gemacht haben. „Für einen Menschen, der nicht in der DDR gelebt hat, war das eine ganz normale Geschichte, zu sagen, ‚Ich gehe Morgen dorthin‘ oder so, da wurde nicht drüber diskutiert. Also für uns war das natürlich eine Lebensentscheidung.“
Salar Ghazi war damals noch kein Filmemacher, er lebte in Westberlin. Doch war er bereits mit einigen der Tänzer*innen befreundet. 20 Jahre später machte er sich mit seiner Kamera im Gepäck auf die Suche nach den Beteiligten des Stückes „Keith“, um mit ihnen über die Ereignisse und das Lebensgefühl um die Wendejahre zu sprechen. Das Projekt erhielt keine Förderung. „Leider interessierte niemanden das Thema und einen abendfüllenden Dokumentarfilm dreht und schneidet man nicht nebenher“, berichtet Ghazi. Er habe seinen Brotjob im Nachrichtenbereich gemacht und arbeitete als Cutter für Filmemacher*innen. Doch ohne jegliche Vorgaben durch eine Filmförderung konnte er nun als Regisseur, Kameramann, Cutter und Tonmann in einem frei entscheiden, wie er seinen Film gestaltet.
Zeitzeugengespräche können ganz schön langweilen, den Interviewten in Sitzposition haftet das Stigma des „Talking Head“ an. Salar Ghazi hat seinen Film jedoch geschickt mit Bildern aus der Historie der Tanztruppe und den Gesprächen der Protagonist*innen parallel montiert, er führt uns geradezu balletös durch deren Erinnerungen. Und das liegt nicht nur an den Kapitelnamen aus dem Ballett-Glossar, wie etwa „Attitude“ oder „Grand Jeté“. Die Erzählungen der Künstler*innen gehen nahe und sie verdichten sich zu einem Gesamtbild, das Entwicklungsgeschichten und Entscheidungsfindungen von Künstler*innen in der DDR für jeden nachvollziehbar macht. Auch wenn man sich für Tanz nicht interessiert.
Summer Berlinale
Das Summer Special der Berlinale 2021 für das öffentliche Publikum findet vom 9. bis zum 20. Juni als reine Open-Air-Veranstaltung statt. Der 139-Minuten-Streifen „In Bewegung“ steht zweimal auf dem Programm:
Sa 12.06., 21:45 Uhr, Freiluftkino Hasenheide
Do 17.06. 21:45 Uhr, Freiluftkino Friedrichshagen