Buchtipp: Täglich grüßt die Tagesschau

Foto: NDR/Thorsten Jander

Beim älteren Teil des ARD-Publikums gilt das vermutlich heute noch: Anrufe zwischen 20.00 und 20.15 Uhr sind nicht erwünscht, denn dann kommt die Tagesschau im linearen Fernsehen. Das Bonmot des früheren RTL-Chefs Helmut Thoma, die Tagesschau könne ohne Reichweitenverlust auch in Latein verlesen werden, hat zwar nicht mehr die einstige Gültigkeit, doch eine Institution ist die Sendung nach wie vor. Am 26. Dezember 1952 ging die Tagesschau das erste Mal auf Sendung. Ein Sammelband ergründet das Phänomen.

Und täglich grüßt die Tageschau. Foto: Herbert von Halem Verlag

Im vergangenen Jahr erreichte die 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau Abend für Abend im Schnitt gut 10 Millionen Menschen. Natürlich ist dabei viel Gewohnheit im Spiel, aber tatsächlich genießen nur wenige Nachrichtensendungen hierzulande ein ähnlich hohes Vertrauen. „Fixstern in der Informationslandschaft“ hat ARD-Medienforscher Stefan Geese daher seinen kenntnisreich und detailfreudig verfassten Beitrag über die gut siebzigjährige Historie der Tagesschau genannt.

Für den Sammelband „Und täglich grüßt die Tageschau haben zehn Autor*innen dieses Phänomen ergründet, das Weihnachten 1952 seinen Lauf nahm. Die Rückblicke haben zwar zwangsläufig nicht viel Neues zu bieten, doch es ist durchaus reizvoll, wie Joan Kristin Bleicher die Tagesschau theologisiert und das Studio zum „heiligen Ort der täglichen Sinnstiftung“ erklärt. Zumindest für die beiden Anfangsjahrzehnte ist diese Sichtweise sicher nicht falsch: Damals waren viele Menschen überzeugt, der langjährige Chefsprecher Karl-Heinz Köpcke („Mr. Tagesschau“) sei eine Art Regierungsmitglied; einige glaubten tatsächlich, er könne in ihr Wohnzimmer schauen.

 

Buchtipp:

Wilfried Köpke / Ulrike Brenning (Hrsg.): „Und täglich grüßt die Tageschau. Vom linearen zum digitalen Nachrichtenformat“. Herbert von Halem Verlag, Köln. 178 Seiten, 25 Euro.

Die Tagesschau als Ritual

Christoph Klimmt analysiert in seinem lesenswerten Aufsatz über die Medienpsychologie der Sendung die Zuwendungsmotivation des Publikums. Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Es geht darum, das Informationsbedürfnis zu stillen. Kurioserweise können bei Befragungen viele schon kurz drauf nicht mehr sagen, welche Themen behandelt wurden. Offenbar ist neben dem Ritual auch eine Menge Pflichtgefühl im Spiel. Die Verstehens- und Behaltensleistung ist nach Meinung des Medienwissenschaftlers nicht nur ein Zeichen für mangelnde Aufmerksamkeit. Es gehört zum Credo des Nachrichtenjournalismus’, Informationen in gebotener Kürze zu präsentieren. Dabei wird viel Hintergrundwissen vorausgesetzt und auf Wiederholungen, die den Lerneffekt erhöhen würden, verzichtet. Im Grunde richtet sich die Tagesschau also an Menschen, die auch Zeitung lesen. Weil deren Zahl abnimmt, wird den Bildern in Zukunft eine noch größere Bedeutung zukommen als ohnehin schon. Dass optische Eindrücke ungleich stärker emotionalisieren als ein vorgetragener Text, ist eine Binsenweisheit der Wirkungsforschung. In den Fernsehnachrichten wirkt die Illustrierung der Texte jedoch oft beliebig. Klimmt fordert daher, die „Gestaltungsroutine kritisch zu hinterfragen“.

Wie konstruktiv ist die Tagesschau?

Damit ist das Buch in der Gegenwart angelangt, selbst wenn Fabian Sickenberger in seinem kritischen Beitrag über die Afrika-Berichterstattung der Tagesschau ebenfalls erst mal zurückschaut. Angesichts der weltpolitisch zunehmenden Bedeutung des Kontinents und erst recht vor dem Hintergrund des Postkolonialismus ist der Eurozentrismus nicht mehr zeitgemäß. Das vermittelte Afrikabild hat sich in den letzten hundert Jahren allenfalls graduell verändert. Die Meldungen werden von Armut, Hunger, Chaos und Gewalt dominiert.

Aus Sicht der beim NDR angesiedelten zentralen Fernsehnachrichtenredaktion der ARD (ARD-aktuell) ist eine andere Frage allerdings wohl wichtiger: Wie reagiert man auf die Entwicklung der Medienlandschaft? Die Veränderungen begannen nicht erst mit der Digitalisierung in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre, sondern bereits 1963 mit der Gründung des ZDF. Größere Folgen hatte die Einführung des Privatfernsehens 1984: Die stetig wachsenden Reichweiten von RTL und Sat.1 haben die Seh-Erwartungen des Publikums erheblich beeinflusst. Heute ist die Tagesschau längst auch in den sozialen Netzwerken präsent: auf Instagram mit Schwerpunkten bei den optischen Inhalten, auf TikTok ohne Krawatte.

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Der Rotstift beim Kinderfernsehen

ARD und ZDF halten es nicht für sinnvoll, wenn die Bundesländer im Reformstaatsvertrag einen fixen Abschalttermin für das lineare Programmangebot des Kinderkanals KiKa festlegen. Die lineare Verbreitung zu beenden, sei „erst dann sachgerecht, wenn die weit überwiegende Nutzung eines Angebots non-linear erfolgt“, erklärten ARD und ZDF gemeinsam auf Nachfrage. „KiKA bleibt gerade für Familien mit kleinen Kindern eine geschätzte Vertrauensmarke, die den Tag linear ritualisiert, strukturiert und medienpädagogisch begleitet.“
mehr »

NRW: Zusammenschluss im Zeitungsmarkt

Die Konzentration im NRW-Zeitungsmarkt, insbesondere in der Region Ostwestfalen-Lippe (OWL), setzt sich fort. Die Neue Westfälische und das Westfalen-Blatt streben eine Kooperation an. Auch die Lippische Landes-Zeitung und das Mindener Tageblatt planen, ihre Verlagsaktivitäten künftig in einer gemeinsamen Holding zu bündeln.
mehr »

Neue Perspektiven für Klimajournalismus

Besondere Zeiten brauchen einen besonderen Journalismus – ein Motto, dass das im Juli gelaunchte deutschsprachige Medienprojekt „Neue Zukunft“ nicht aus werbestrategischen Gründen ausgegeben hat. Die Klimakrise und die Klimagerechtigkeitsbewegung erhalten in vielen Medien der Schweiz, Österreichs und Deutschlands ihrer Meinung nach nicht genügend Aufmerksamkeit. Gerade Gerechtigkeitsfragen erhöhen den Handlungsdruck im Zusammenhang mit den Folgen menschlichen Raubbaus an Ressourcen und Umwelt.
mehr »

Filmtipp: In Liebe, eure Hilde

Worte wie Mut oder Zivilcourage können nicht annähernd erfassen, was die jungen Mitglieder antifaschistischer Widerstandsgruppen wie „Weiße Rose“ oder „Rote Kapelle“ geleistet haben. Abgesehen von den Geschwistern Scholl sind ihre Namen größtenteils in Vergessenheit geraten. Geblieben ist meist bloß noch eine Straßenschildprominenz. Das gilt auch für Hilde Coppi, der Andreas Dresen mit „In Liebe, eure Hilde“ ein Denkmal gesetzt hat.
mehr »